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TRACE καιρος - Essays unter Zeitdruck

07.01.2022 | Update am 18.08.2022


Heiner Mühlmann

KULTURSTRATEGIE

Weltkrieg - Corona - Ukraine
Die Epoche der verschränkten Krisen

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Erster Teil: Vorspiel im Museum

Seit neuester Zeit gibt es Entwicklungen, die zeigen, dass sich etwas verändert und dass diese Veränderung der Endpunkt eines Prozesses ist, der schon viel früher begonnen hat. Die Ereignisse, von denen ich zunächst berichten werde, finden jetzt, während der zwanziger Jahre des 21ten Jahrhunderts statt. Sie finden statt in einem Subsystem der westlichen Kultur: nämlich im Subsystem „Kunst“.

Von der Kunst meint der größte Teil der gebildeten Bevölkerung, sie sei eine prophetische Offenbarung des Zeitgeistes. Zeitgeist sei ein Teil des universalen Geistes, und der allgegenwärtige Geist erzeuge einen Funktionszusammenhang zwischen Kunst und Welt. Diese Vorstellung hat sich seit zwei Jahrhunderten zu einer Grundannahme des kulturellen Bewusstseins entwickelt.

Den Zusammenhang zwischen Kunst und Welt scheint es tatsächlich zu geben. Ich vermute aber, dass er sehr viel konkreter ist als die Geisteswissenschaft meint. Möglicherweise ist er sogar das Resultat von manipulativen Eingriffen.

Im Kunstmilieu gibt es momentan zwei Trends, die ahnen lassen, dass wir in einer Zeit des Umbruchs leben. Der erste ist die zunehmende Aufmerksamkeit, die den sogenannten Art-Influencern entgegengebracht wird. Der zweite ist die Krise, möglicherweise das Ende, der Documenta. Die Documenta sei, das meinen viele Experten und Laien, die wichtigste Kunstausstellung der Welt.

Wenn es um Kunst geht, spricht man im frühen 21ten Jahrhundert mehr von art-influencern als von Künstlern. Die Kunstszene informiert sich regelmäßig mithilfe von jährlich veröffentlichten Listen über das Ranking der gefragtesten art-influencer. Dabei scheint die Liste der englischen Zeitschrift „Art Review“ der wichtigste Multiplikator zu sein.

Im Jahr 2021 steht in der „Art Review“ auf dem obersten Rankingplatz ein NFT, ein sogenanntes „Non-Fungible Token“. Viele Art-Influencer vermitteln NFTs. Diese digitalen Artefakte haben in den zwanziger Jahren Hochkonjunktur. Ihre Präsentationsplattformen sind nicht Ausstellungen sondern Onlinepräsenzen. Das sind auch die wichtigsten Plattformen der Art-Influencer.

Ein NFT ist ein Einmaligkeitsalgorithmus. Er erzeugt Unikate. Er erzeugt sie sogar aus Onlineübertragungen, deren Konstruktionsmerkmal eigentlich die totale Reproduzierbarkeit ist. Denn Onlineübertragungen werden gesendet und können von beliebig vielen Endgeräten empfangen, gespeichert und somit reproduziert werden.

Das NFT ist eine digitale Urkunde. Es hat meistens die Funktion einer Urkunde, die den alleinigen Besitzanspruch an einem beliebigen, realen oder virtuellen Objekt garantiert. Auf diese Weise können Objekte - auch Kopien aus Kopiemengen - durch NFTs ausgewählt, isoliert, zu einmaligen Objekten gemacht, verkauft und versteigert werden.

Einmaligkeit ist das Gegenteil von Fälschung. Authentische Einmaligkeit ist das wichtigste Kunstprinzip, seit man fertige Kunstwerke kauft und sie nicht mehr auf Bestellung und als Unikate nach eigenen Angaben anfertigen lässt. Das NFT-Kunstwerk ist auf das Prinzip der Einmaligkeit reduziert. Dieses Kunstwerk hat nur noch eine Eigenschaft: Echtheit als Resultat von Einmaligkeitsgarantie. Auf die Frage: „was ist denn im NFT echt?“, müsste man antworten: „gar nichts!“ Es handelt sich um etwas, was eigentlich „unecht“ ist, weil es das Prinzip der Entstehung durch Vervielfältigung nicht ausschließt. Doch durch die Zwischenschaltung eines Spezialalgorithmus wird auch aus dem, was aus der Vervielfältigung hervorgeht, etwas Einmaliges.

An zweiter Stelle auf der Art-Review-Liste steht der Name einer Frau, die wegen ihres Engagements für die Natur berühmt geworden ist. Auch sie ist keine Künstlerin. Ebenfalls viele Kuratoren erscheinen auf der Liste. Schließlich gibt es auch Künstler, aber keineswegs auf den oberen Rankingplätzen.

Was hat sich verändert? Früher hat man den Menschen beigebracht, Kunst und Künstler seien autonom. Im 21ten Jahrhundert jedoch sagt man, die Kunst-Beeinflusser seien am wichtigsten.

Hat es Kunst-Influencer immer schon gegeben oder sind sie erst während einer späten Phase der Kunstgeschichte entstanden? Ist die Bestimmung der Zeit ihrer Entstehung wichtig für das Verständnis dieses Phänomens, so wie Datierungen für die Kunstgeschichte schon immer wichtig waren?

Eine Feststellung halte ich für unstrittig: Die zur Institution gewordene Funktion der Art-Influencer lässt die Kunst nicht als etwas Autonomes sondern als etwas Fremdbestimmtes erscheinen.

Zur Documenta-Krise und zu ihrem kulturwissenschaftlichen Hintergrund folgende Anmerkung: Die Documenta war die erste staatliche Ausstellung von kontemporärer, sogenannter „moderner“ Kunst. Erst durch sie wurde die moderne Kunst öffentlich anerkannt.

Die Gründung der Documenta war eine notwendige Gegenenmaßnahme nach zwei vorangegangenen Staatsausstellungen von Kunstrichtungen, die ebenfalls kontemporär waren. Die erste war die Dauerausstellung des nationalsozialistischen „Hauses der Deutschen Kunst“ in München. Dort wurde die neu angefertigte Nazikunst gezeigt. Kontemporär war schließlich auch die Kunst, die in der Naziausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt wurde.

Die Pariser Dauerausstellung moderner Kunst, das „Musée d’art moderne“ wurde erst 1961 eröffnet. Die Ausstellungen zur Zeit der Kubisten und der sogenannten „frühen Pariser Moderne“ waren alle „Salons“. Mit anderen Worten: Es waren von Kunsthändlern organisierte Verkaufsausstellungen.

Durch die Documenta entstand die kulturelle Institution „der allmächtige Kurator“. Denn die Kuratoren der hoheitlichen Ausstellungen von moderner Kunst verfügten im Rahmen ihrer kulturpolitischen Kompetenz über das von Marcel Duchamp hinterlassene Vermächtnis, das dazu befähigt, jedes beliebige Objekt zum Kunstwerk zu erklären. Der epochale Präzedenzfall für diese Praktik war die berühmte „Fontäne“ von Duchamp. Ich schlage für diese Form der Entscheidungsautonomie den Begriff „Duchamp-Willkür“ vor.

Seit der Einführung der „Duchamp-Willkür“ geriet die moderne Kunst in den Realitätsbereich der Albernheiten. Die Kuratoren, die Kunstpresse und die Kunstwissenschaftler mussten sich eine besondere Sprache aneignen, die im Zusammenhang mit Kunst unverzichtbar wurde. Es war die Sprache der absurden und albernen Metonymien. Beispiel: „Dieses Urinoir ist eine Fontäne.“ Gregory Bateson würde dieses Verhalten „Deuterolearning“ nennen. Es entstand ein kulturelles Insiderverhalten, bei dem man lernen musste, wie man den Verzicht auf Ernsthaftigkeit zu dosieren hatte, um trotzdem als ernsthafter Kunstexperte zu erscheinen.

Dieses Insiderverhalten gab auch bei der Documenta den Ton an. Man erinnere sich an Joseph Beuys und seine Honigpumpe. Und diese Documenta, die nie ganz ernst war, und die man deshalb nie wirklich ernst nehmen konnte, steht jetzt vor ihrem Ende.

Die beiden Entwicklungsstränge „Duchamp-Willkür“ und NFT führten zwangsläufig zu einer festen Verschränkung von NFT und „Duchamp-Willkür“. Damit ist ein vorläufiger Endpunkt erreicht. Die Emergenz des „Duchamp-Willkür-NFT“ macht Museen und Ausstellungen überflüssig. Man denke an die Documentakrise 2022.

Seit die künstliche Intelligenz sich immer weiter verbreitet, ist so etwas wie ein neuer Humanismus entstanden. Es gibt Interessengemeinschaften, die sich fragen, erstens, ob eine sich selbst verbessernde künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz ersetzen kann, mit anderen Worten, ob sie den Menschen gewissermaßen verdrängen kann, und zweitens, wie man den menschlichen Bereich vor der Übernahme durch die künstliche Intelligenz schützen kann. In diesen Überlegungen gehören Kunst und Kreativität immer zu den sicheren Schutzgebieten des Menschentums.

Doch das gilt inzwischen nur noch mit Einschränkungen, denn der Akt der willkürlichen Entscheidung à la Duchamp kann von einer KI ebenso gut wie von einem Menschen ausgeführt werden. Grund dafür sind die in der Duchamp-Willkür erlaubte Absurdität und die dadurch bedingte Akzeptanz einer albernen Legitimationssprache.

Wenn eine KI in einem Akt der Duchamp-Willkür ein beliebiges Umweltobjekt auswählt und zu einen Duchamp-Objekt erklärt, kann sie im Anschluss daran das so erzeugte Duchamp-Objekt mit einem NFT versehen und in den Kunst- und Auktionsmarkt einschleusen. Auf diese Weise würde die Kunstschöpfung zur Gänze in einen quantitativen Prozess verwandelt. Dabei würde nicht mehr ein humaner, vermeintlich genialer Künstler, sondern allein die Statistik des Markterfolgs das bessere- vom schlechteren Kunstwerk unterscheiden. Dieser Prozess würde sich zur Gänze im transhumanen Bereich abspielen, das heißt: jenseits von Bewusstsein und ästhetischer Urteilskraft. Die KI hätte dem Menschen einen weiteren Bereich seiner vermeintlich exklusiv humanen Kompetenz entwendet: die Kreativität und den Künstlerberuf. Die Menschen wären in diesem Prozess nur noch vertreten durch das Medium des Marktes und durch das Medium der Statistik ihres Präferenzverhaltens.

Deshalb ist das „Duchamp-Willkür-NFT“ ein kultureller Krisenindikator, der anzeigt, dass KI Kunst kann. In dieser Entwicklung manifestiert sich die Entmenschlichung der Kunst. Die toxische Kombination, die diesen Entwicklungsprozess endgültig macht, besteht aus der Nobilitierung der kulturellen Albernheit und der Auslagerung des Echtheitsprinzips, das nicht mehr durch einen humanen Künstler garantiert wird, sondern durch ein NFT.

Es wird erkennbar, dass diese Entmenschlichung der Kunst nicht allein durch die Entstehung des NFT hervorgerufen wird. Eine wichtige Voraussetzung für diese Entmenschlichung ist die Akzeptanz der Albernheit, die durch den Effekt der Duchamp-Willkür unverzichtbar wurde. Zurück zum Art-Influencer, dem anderen kulturellen Krisenindikator: Unabhängig vom Phänomen Kunst spielt bei der kulturwissenschaftlichen Erklärung des Influencer-Phänomens die Mimesistheorie von René Girard eine wichtige Rolle. Laut Girard wird das Begehren, das auf Prestigeobjekte und Luxuswaren gerichtet ist, durch das Mimesis-Verhalten der Menschen ausgelöst. Die Menschen ahmen, so Girard, zwangsartig andere nach und fixieren dabei ihre Aufmerksamkeit auf das, was die anderen besitzen oder am Körper tragen. Auf diese Weise erzeugen sie in ihrem eigenen psychischen Apparat das unstillbare Verlangen, die Besitztümer der anderen ebenfalls zu besitzen. Sie wollen sich auf diese Weise der anderen gewissermaßen „bemächtigen“.

Die Girardsche Influencer-Mimesis löst den Effekt aus, der von den Ökonomen „Präferenzverhalten“ genannt wird, und der in kulturaffinen Wirtschaftsmodellen als Auslöser von Transaktionsentscheidungen betrachtet wird. In diesen Modellen wird der Buchstabe „P“ = Präferenz in die sogenannten „U-Gleichungen“ eingesetzt. „U“ steht für „utility“, der „Nutzen“. Die Ersetzung des „U“ durch das „P“ soll ausdrücken, dass die Wirtschaftsentscheidungen nicht ausschließlich vom Nützlichkeitsdenken beeinflusst werden.

Wenn es also beim Influencer-Erfolg um das Erwecken von Präferenzwünschen geht, die möglicherweise von dem abhängen, was die Girardschule „Begehren durch Mimesis“ nennt, dann stellt sich die Frage, ob diese sogenannte Mimesis ein ultimate- oder ein proximate-Phänomen ist. „Proximate“ bedeutet: Dieser Effekt kommt nur durch den Einfluss von anderen Effekten zustande. „Ultimate“ bedeutet: „Emergenz-Effekt“, ein Effekt, der sich aus sich selbst erklärt. Wäre das Verhalten, das bei Girard „Mimesis“ genannt wird, ultimate, dann müsste man zu seiner Erklärung keine mimesisfremden Auslöseeffekte heranziehen.

Wenn man das Mimesis-Begehren der Influencertheorie mit ökonomischem Präferenzverhalten gleichsetzt, was nahe liegt, dann liegt es ebenfalls nahe, den ökonomischen Präferenzbegriff mit dem erweiterten Präferenzbegriff zu vergleichen, der in der Kulturanthropologie Verwendung findet. Dort wird das Präferenzverhalten nicht als Ultimate-Phänomen dargestellt, sondern als proximate-abhängig von der Einbettung in ein Dualsystem, das aus Präferenzverhalten und einem komplementären Verhalten besteht, das „Indikation“ genannt wird. Im Unterschied zum eher hedonistischen Präferenzverhalten kommt das Indikationsverhalten unter dem Diktat von Notwendigkeit, Zwang und Stress zustande. Durch diese Zusammenhänge wird Indikation dem Stressverhalten zugeordnet und Präferenz dem poststressalen Relaxationsverhalten, weil Stress und Relaxation mit physiologischer Kausalität aneinander gekoppelt sind. Das würde bedeuten, dass Präferenzverhalten sich besonders entspannt entfalten kann während der Erholungsphasen, die auf Anspannung und Stress folgen. Das wiederum würde bedeuten, das Influenceraktivität, die auf hedonistische Präferenz und Mimesisbegehren abzielt, die größten Erfolgschancen in den Phasen der poststressalen Relaxation hat.

Wenn man nun Präferenz als ökonomisches Auslöseverhalten von Transaktionsentscheidungen mit der Präferenz aus dem kulturanthropologischen Modell vergleicht, und außerdem mit dem Girardschen Mimesisbegehren, und wenn man des weiteren Mimesis auf den biologischen Imitationsbegriff zurückführt, dann erscheint das Imitationsverhalten als funktional abhängig von der durch Stress induzierten Erholung.

Imitation, alias „Mimesis“ = Auslöser von Begehren und Präferenz, wäre demnach abhängig von Anspannungs- und Relaxationszyklen. Das würde bedeuten: Für die Bemühungen der Influencer, die ökonomische Präferenzen stimulieren wollen, wäre es zu simpel, einfach nur auf die Imitationsreflexe der potentiellen Kundschaft zu zielen. Die Influencer müssten darüber hinaus eine Taktik entwickeln, die individuelle oder kollektive Stressphasen einkalkuliert, und sie müssten auf diese Weise optimale Öffnungsphasen für ihre Präferenz-Stimuli erzeugen.

Ein Wort zum Phänomen der Imitation! Denn Mimesis bedeutet ja nichts anderes. Im Unterschied zum Imitationsbegriff haftet dem Begriff der Mimesis ein Hauch des Philosophischen an, weil er schon bei Platon vorkommt. Auf diese Weise entsteht die illusorische Annahme, Mimesis sei ein Grundbegriff, oder ein Axiom, griechisch: eine arche. Mit anderen Worten: etwas, das keiner Erklärung bedarf und somit, modern ausgedrückt, „ultimate“-Qualität hat. Wenn also Imitation und Präferenzbegehren miteinander verschränkt sind, und wenn Imitation deshalb für ökonomische Interessen so wichtig ist, dann kann es nicht schaden, mehr über die kulturellen Funktionen des Imitationsverhaltens zu erfahren.

Von der Fähigkeit zu imitieren wird, wie wir alle wissen, in Theater, Showbusiness und Entertainment ausgiebig Gebrauch gemacht. Und wenn dem Imitationsverhalten etwas hedonistisches anhaftet, und wenn es besonders gut funktioniert in Phasen der Erholung von Stress, dann muss man fragen: Gibt es auch im Theater dramaturgische Stressgattungen und dramaturgische Erholungsgattungen? Ja, die gibt es! Es sind die Tragödien und die Komödien. Demnach müsste, wegen der Affinität von Imitationsverhalten und Erholung, in Komödien mehr Imitation stattfinden als in Tragödien. Das müsste so sein, weil die Komödien in dieser Logik den poststressalen Erholungsphasen zugeordnet werden. Hat somit Imitationsverhalten - quasi aufgrund von Naturgesetzen - immer eine Affinität zu Humor, Komik, Fröhlichkeit und Entspannung?

In der Tat erscheint in Komödien viel mehr Imitation auf der Bühne als in Tragödien. Tragödien leben mehr von der pathetischen Deklamation. In der Komödie dagegen wird ständig menschliches Verhalten nachgeahmt, ja nachgeäfft, und das entweder auf realistische oder auf übertriebene Weise. Ostentatives Imitieren und Nachäffen sind an sich bereits komisch, sowohl im realen Leben als auch im Theater.

Die organisatorische Wechselwirkung von Indikationsmerkmal und Präferenzmerkmal, und, in Analogie dazu, die Wechselwirkung von Stress und Relaxation scheinen sich in der Wechselwirkung von Tragödie und Komödie widerzuspiegeln. Bei den Dionysien im antiken Athen folgten in den Spielplänen auf die Tragödien die Komödien, wie die Erholung auf die Stressaktion folgt.

Der Unterschied zwischen Komödie und Tragödie wurde in den dramaturgischen Anleitungsbüchern von Boileau und Lessing „klassische Stiltrennung“ genannt. Die Stiltrennung war eine Funktion der Decorum-Dramaturgie mit ihren polarisierten Stillagen „erhabenen“ und „niedrig“, „high-ranking“ und „low-ranking“. Die zeitliche Folge von Tragödie zuerst und Komödie danach scheint eine kulturelle Therapietechnik gewesen zu sein, bei der zuerst Stress beschworen wurde, um danach die erlösende Erholung von Spaß durch Imitation und Gelächter erlebbarer zu machen. Die dabei verbreitete gute Stimmung scheint intensiver zu sein als gute Stimmung, die man ohne das Stressvorspiel zu erzeugen versucht, zum Beispiel indem man auf dem Oktoberfest ins Bierzelt geht und sofortige Fröhlichkeit anstrebt. In der guten Stimmung nach den Stress- und Erholungsveranstaltungen waren wahrscheinlich auch die Besucher der athenischen Dionysien besonders konsumfreudig und besonders empfänglich für die Versprechungen der damaligen Influencer, Warenanpreiser und Verkäufer.

Das Imitationsvermögen, das uns so weit als Spaßverhalten und als Rezeptor der Influencerbotschaften begegnet ist, hat in der Natur die Funktion der Reproduktion von etwas anderem. Dabei ist sowohl an die genetische Reproduktion als auch an die kulturelle Reproduktion zu denken. Lernen besteht zu großen Teilen aus Imitation. Imitation gewährleistet dabei Zeitersparnis und Lernökonomie. Denn, was man imitieren kann, braucht man nicht neu zu erfinden. Die Lebewesen sind deshalb mit Imitationsantennen ausgestattet. Sie sind überall und immer bereit, zu imitieren. Und die Imitationslust scheint abhängig zu sein vom Zustand der Stressfreiheit. Erst wenn man sich von Stress erholt hat, findet man wieder Musse und Zeit zu lernen, zu imitieren und sich über Imitationseffekte zu amüsieren, zum Beispiel, wenn es irgendwo etwas zu lachen gibt.

Imitation, alias Mimesis, ist also die Rezeptionsantenne für die Bemühungen der Influencer. Influencer wollen ein Begehren erwecken, das zu Kaufentscheidungen führt. Welche Rolle spielen dann im Universum der Konsum-Influencer die Art-Influencer?

Seit dem Ende des Ancien Régime gibt es die Charaktermaske des Dandys. Bei den Dandys handelte es sich in zweifacher Hinsicht um ein Mimesis-Phänomen. Erstens: Sie ahmten die Protagonisten einer vorangegangenen Kulturepoche nach. Nämlich die Aristokraten. Zweitens: Die Dandys fungieren als ideale Vorbilder für spätere Dandynachahmer.ß

Die Basisformel des Dandyverhaltens lautet: „Mein Kunstwerk ist mein Leben“. Berühmte Dandys waren Oscar Wilde und Gabriele d’Annunzio. Auch der große Marcel Proust war fasziniert von der Kultur der Dandys, von dem Raffinement ihrer Umgangsformen, von ihren Selbstzweifeln und von der Melancholie, die über dem Ganzen lag.

Im Bewusstsein der Dandys war die Kunst die Quintessenz des Lebens der Aristokraten. Der Lebensstil der Dandys beruhte auf der Annahme, dass die Nachahmung des aristokratischen Lifestyle und der aristokratischen Kunst-Umwelt aus Nicht-Aristokraten etwas mache, was dem echten Aristokraten ebenbürtig sei. Dabei galt folgendes Prinzip: Während ein Aristokrat ein tapferer Krieger sein musste, durfte ein Dandy ein Feigling sein. Denn allein das Embodiment der Kunst machte aus ihm einen Menschen, der dem Rest der Menschheit überlegen war.

Eine bemerkenswerte Variante des Dandy-Vorbilds ist der sogenannte „Übermensch“ aus der Schrift „Jenseits von Gut und Böse“ von Friedrich Nietzsche. Hier wurde der Dandy-Charakter in den Bereich der Fiktion übertragen. Ob Nietzsche selbst den Lebensstil eines Dandys pflegte, ist mir nicht bekannt. Wahrscheinlich reichten seine Ressourcen dafür nicht aus. Die Charakterrolle des Übermenschen aber ist Dandyismus pur. Denn auch der Übermensch ist das wandelnde Kunstwerk, das ohne die dazugehörenden militärischen Pflichten die Lifestyle-Privilegien der Aristokratie beansprucht. Von diesen Privilegien sagt Nietzsche, sie beständen aus der Verweigerung des Verhaltensprinzips von Gut und Böse. Für den Übermenschen und sein Vorbild, den Aristokraten, gelte nur das Prinzip „gut für mich“ oder „schlecht für mich“. Damit unterscheide er sich von den Duckmäusern dieser Welt. Gemeint sind Juden und Christen, die verpflichtet seien, das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen, weil das Böse eine Sünde sei.

Die Sache mit dem hemmungslosen Egoismus der Aristokraten kann so nicht stimmen. Denn Aristokraten waren durch Geburt vorbestimmt, Militäroffiziere zu werden. Und selbst der schlechteste Offizier kann nicht nur daran denken, was gut für ihn ist. Er muss manchmal auch daran denken, was gut für die ist, die unter seinem Kommando stehen.

In der Literatur ist Nietzsches „Übermensch“ oft als der Prototyp des Verbrechers dargestellt worden. Doch das trifft es nicht. Für einen Verbrecher ist der Übermensch zu sehr verweichlicht.. Denn er ist ja die lebende Verkörperung der Schönen Künste. Richtige Verbrechen würden die Kunst in ihm beschmutzen. Das Kunstembodiment genügt ihm für seinen Überheblichkeitsanspruch.

Auch ist immer wieder das psychologische Profil des Psychopathen mit der Fiktion des Übermenschen in Zusammenhang gebracht worden. Das trifft die Sache schon eher. Denn die typischen Eigenschaften des Psychopathen sind: überdurchschnittlich gutes Aussehen; die Fähigkeit, andere Menschen für sich zu gewinnen; völliges Fehlen von Empathie; spontaner Verlust der Selbstkontrolle; Aggressivität; die Fähigkeit Menschen zu manipulieren; skrupelloser Egoismus und Stressresistenz.

Der Dandyismus ist ein Passagenphänomen und ein Nachahmungsphänomen. Das ist er, weil er aus dem Übergang vom Ancien Règime zur Bourgeoisie hervorgegangen ist. Dieses Passagen-Syndrom der Vergangenheit liefert über die Zeiten hinweg viele Merkmale, die sich für die Nachahmung anbieten, - zum Beispiel für die Nachahmung durch Art-Influencer. Der Begriff „Art-Influencer“ ist nicht Resultat von akademischer Kulturdeutung. Er hat sich einfach eingebürgert. Er ist eine Vokabel, die zum Jargon der Galeristen, Kuratoren und Art-Journals geworden ist. Das führt uns zurück zur Frage nach der Vorgeschichte des Phänomens, auf das sich dieses neumodische Wort bezieht.

Es folgen einige Überlegungen zur Datierung der Entstehung des Art-Influencertums:

Der erste Art-Influencer hieß Bazon Brock. Er arbeitete für die Documenta und nannte sich „Künstler ohne Werk“. Damit übernahm er die Formel „Mein Kunstwerk ist mein Leben“, was ihn in die Tradition des Dandyismus einreihte. Und damit erschloss sich auch für ihn das Mimesis-Potential des Dandyismus. Mit anderen Worten: es erschloss sich eine Mimesis, bei der ein Mensch zur Verkörperung der Kunst erklärt wird und dann mit dem fiktiven Embodiment der Kunst vom Publikum wahrgenommen wird. Dann kann, gestützt auf dieses Embodiment, die Influencerarbeit aufgenommen werden. Zentrales Funktionselement ist, wie bei René Girard, die Mimesis.

Diese historische Influencertätigkeit galt dem Erfolg der Documenta, der weltweit wichtigsten staatlichen Kunstausstellung während der Nachkriegszeit, jener Kunstausstellung, die jetzt, im Jahr 2022, möglicherweise zum letzten Mal stattfindet. Markenzeichen der Documenta war das Ausstellen von abstrakter, sogenannte „moderner“ Kunst.

Der Erfolg der Documenta stand auf dem Spiel während der prekären Erholungsphase, die auf den Maximalstress des Zweiten Weltkriegs folgte. Wenn während dieser kritischen Phase der kulturellen Entwicklung ein erster Art-Influencer benötigt wurde, dann gilt auch für diesen Influencer, was für alle Influencer-Kampagnen gilt: Es gibt immer die Drahtzieher, die im Vorfeld die Marketingstrategie entwickeln. Die späteren Influencer sind dann nur noch Marionetten.

Auch im Bereich der Kunst hatte es vor der Influencerkampagne der Documenta die Strategen gegeben, denen die Wirkungsmechanismen ihres geplanten Influencingprojekts bekannt waren. Der Einfluss dieser Art-Influencingstrategen war logischerweise noch weitaus größer als der des ersten Art-Influencers. Doch die Strategen des Documenta-Projekts mussten im Geheimen wirken. Sie waren Mitglieder der amerikanischen Geheimdienste, die bereits während der Kriegszeit die Relaxationskultur der Nachkriegszeit vorbereiteten.

Das Gelingen der Documentaausstellungen war wichtig für das Gelingen der ganzen Nachkriegs-Kulturstrategie und für die schwierige Ablösung des traditionellen Kunstgeschmacks durch den Kunstgeschmack der Moderne. Denn erst als sich die Akzeptanz der modernen Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg konsolidiert hatte, war es möglich, ein integrales historisches Epochenbewusstsein der Moderne zu entwickeln. Erst nach dieser Konsolidierung konnte man die Impressionisten, Cezanne und die Kubisten inklusive Marcel Duchamp unter den Begriff „Frühe Moderne“ subsummieren. Diese Konsolidierung hing entscheidend von der Implantation der Documenta in Deutschland ab.

Die Durchsetzung einer Ausstellung mit bilderloser Kunst war heikel im Kernland des Zweiten Weltkriegs. Sie war besonders heikel in der kritischen Zeit unmittelbar nach der Zerschlagung eines propagandistischen Kunstsystems, an das sich die Menschen gewöhnt hatten.

In diesem Kernland wurde der Zweite Weltkrieg entschieden. In diesem Land kam es nach der Unterwerfung durch die Siegerallianz darauf an, eine neue Kultur ohne die Fähigkeit der militärischen Mobilisierung zu etablieren. In dieser neuen Kultur durfte es keine Kunst mit dem Potential der politischen Propaganda geben.

Doch seit der Zeit der alten Griechen besaß die Kunst in ganz Europa und Amerika immer die Fähigkeit der politischen Propaganda. Diese Fähigkeit verdankte sie dem Decorum-System, das ich im Zusammenhang mit der dramaturgischen Verschränkung von Tragödie und Komödie bereits erwähnt habe. „Decorum“ bedeutet: „Übereinstimmung von politischem und ästhetischem Respekt“. Dabei fungierte der politische Respekt als Schutzschild gegen Mangel an Ernsthaftigkeit und Albernheit.

Das Regelsystem „decorum“ herrscht in der ganzen okzidentalen Kultur bis zum heutigen Tag. In den USA beispielsweise ist das Wort „decorum“ mitsamt seiner lateinischen Endung noch Bestandteil der Umgangssprache. Es wird häufig im politischen Kontext benutzt. So wurde zum Beispiel in einer öffentlichen Rede gesagt, der Sturm auf das Kapitol zum Ende der Amtszeit von Donald Trump habe das „decorum“ des Kapitols verletzt. Auch Trump hatte diese Vokabel oft benutzt, zum Beispiel wenn Journalisten aufdringliche Fragen stellten. Er sagte dann, das entspreche nicht dem „decorum“ des Weißen Hauses.

Zum Thema „decorum“ gibt es eine überbordende Quellenliteratur. Sie datiert aus der Zeit der griechischen Antike und aus allen Epochen der europäischen Kultur. Beim Studium der Überlieferung des „decorum“ erkennt man unter anderem, dass die italienische Renaissance in ihrem kulturellen Kerneffekt eine Renaissance des römischen „decorum“ war, und zwar des allumfassenden Decorum-Systems in den kulturellen Kompetenzbereichen „Rechtswesen“, „diplomatische Korrespondenz“, „Literatur“, „Rhetorik“, „Architektur“, „Bildtechniken“ und „Musik“. Die italienische Renaissance war – das darf man nicht vergessen – die wichtigste Epoche im kulturellen Selbstfindungsprozess der westlichen Kultur.

Die Kraft des decorum gab auch den Nazis ein mächtiges Werkzeug in die Hand. Dieses Werkzeug benutzten sie für ihr Projekt der Kulturbeeinflussung. Die Decorum-Applikationen, die sie in ihren demagogischen Techniken einsetzten, erzielten perfekte Ergebnisse. Sie benutzten auf schamlose Weise das altehrwürdige Organisationspotential der Decorum-Kulturwahrnehmung und der Decorum-Eigenwahrnehmung.

Das hatten die amerikanischen Beobachter des internationalen Geschehens erkannt. Deshalb lancierten sie ihrerseits ein geniales Kunstsystem. Es hatte die Fähigkeit, Decorum-Effekte zu verhindern. Ihr Kunstsystem war die ikonologielose Malerei des sogenannten „Abstrakten Expressionismus“. „Ikonologielosigkeit“ bedeutet: Unmöglichkeit, durch Gemälde Narrative mit eindeutigen Inhalten zu vermitteln. Keine Narrative, keine Inhalte bedeutet dann auch: Unmöglichkeit politische Inhalte darzustellen und somit: Unmöglichkeit politischen Respekt einzufordern.

Ikonologielosigkeit und Duchamp-Willkür wurden zu den beiden wichtigsten Funktionselementen der Kunst-Moderne.

Der „Abstrakte Expressionismus“ war von den amerikanischen Geheimdiensten während der drei letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs selektiert und in Wanderausstellungen der Weltöffentlichkeit vorgestellt worden. Auf diese Weise wurde der Eindruck erweckt, dass es sich um einen spontan entstandenen weltweit anerkannten Stil handelte. Man verfügte über eine Malerei, in der Ikonologie deshalb unmöglich war, weil man die Kunst des Zeichnens abgeschafft hatte. Erlaubt waren nur noch „informelle“ Maltechniken wie Tröpfeln, Verschmieren und Spachteln. Der typischste Künstler dieses Stils war Jackson Pollock.

Die Wanderausstellungen des Abstrakten Expressionismus hatte man außerhalb des deutschen Einflussbereichs veranstaltet.

Dieser abstrakte Expressionismus war für die Implantation in der deutschen Nachkriegskultur entwickelt worden. Der geplante Implantationsort war Kassel. Kassel war eine Stadt, die sich gewissermaßen „an vorderster Front“ befand. Denn sie lag nur 35 km entfernt vom sogenannten „Eisernen Vorhang“, der damaligen Außengrenze der westlichen Welt. Diese geographische Besonderheit war kein Zufall. Die Kasseler Documenta sollte die sesshafte Nachfolgerin der Wanderausstellungen werden und die westliche Kultur gewissermaßen nach außen verteidigen.

Man musste also für eine Bevölkerung, die an die alte Kunst Europas gewöhnt war, und die man zusätzlich an die Werke von Arno Bräker und Albert Speer gewöhnt hatte, – für diese Bevölkerung musste man die abstrakte Documenta-Kunst als normal und weltweit anerkannt erscheinen lassen. Man musste sie darstellen als etwas, was in der Welt außerhalb von Deutschland schon lange selbstverständlich war, und was die Deutschen nur deshalb noch nicht kannten, weil sie wegen des Krieges von der internationalen Entwicklung abgeschnitten waren.

Also präsentierte man die bilderlose Kunst des Abstrakten Expressionismus. Doch weil sie bilderlos war, entstand bei den Ausstellungsbesuchern eine Erwartungslücke. Diese Lücke war entstanden durch die unerfüllte Erwartung, die von der verdrängten Decorum-Konditionierung ausging. Decorum-Konditionierung bedeutet ja: Bereitschaft oder Weigerung einem Kunstwerk politischen – und davon abhängig – ästhetischen Respekt entgegenzubringen.

Die Decorum-Konditionierung ist im Unbewussten verankert. Die Decorum-Konditionierung bewirkt, dass man an den Wänden von öffentlichen Gebäuden, von Privaträumen und von Museen Bilder erwartet, die nach inhaltlicher Relevanz abgestuft sind und die aufgrund dieser Abstufung legitimiert sind, an den ausgewählten Orten präsentiert zu werden. Dabei müssen auch die Orte unter dem Gesichtspunkt von Relevanz und Irrelevanz abgestuft sein.

In dieser Situation, die von verunsicherter Erwartung geprägt war, leistete der erste Art-Influencer seine Leitfigurarbeit: Die Ausstellungsleiter der Documenta organisierten mit ihrem Influencer sogenannte „Besucherschulen“.

Wenn eine Erwartungslücke von Staatsausstellungen wie der Documenta erzeugt wird, dann entsteht eine Situation, in der eine Autorität – in diesem Fall der staatliche Ausstellungsveranstalter - von einem untrennbaren Ganzen einen Teil zulässt und einen anderen Teil verbietet. Das entspricht dem Sachverhalt der klassischen Freudschen Verdrängung: Von einem unteilbaren Ganzen erlaubt ein übergeordnetes Gewissen nur die Bewusstmachung eines Teils. Dem erlaubten Teil entsprechen die Exponate, die in der Ausstellung erscheinen dürfen. Der unerlaubte Teil verschwindet zwar nicht aus der Realität. Er wird lediglich im bewussten Bereich der Realität nicht zugelassen. Wenn decorum Zusammenfallen von politischem und ästhetischem Respekt bedeutet, dann ist in den Kunstausstellungen der bilderlosen Exponate der ästhetische Respekt erwünscht. Der eigentlich zum ästhetischen Verhalten dazugehörende politische Respekt aber ist unerwünscht, – oder, psychoanalytisch ausgedrückt: „er wird verdrängt“. Das entspricht dem Freudschen Konzept der Neurose. Es entsteht ein Druck aus dem nicht zugelassenen Bereich, dessen Inhalte in den zugelassenen Bereich drängen. Diese Inhalte suchen dann nach Schlupflöchern, die ihnen den Weg an die Bewusstseinsoberfläche öffnen. Angesichts dieses Drucks, der an die Oberfläche strebt, braucht es eine Kraft, die die Verdrängung aufrechterhält. Zu den „Schlupflöchern“ gehören im Freudschen Konzept der Neurose die berühmten Freudschen Versprecher, die Witze und Witzeleien, – Witzeleien, die bis zur sogenannten „Witzelsucht“ gehen können, wobei die „Witzelsucht“ eine psychische Krankheit ist, deren Merkmale neuropsychologisch beschreibbar sind.

Freudsche Witzeleien, die aus dem Unbewussten kommen, und duchampeske Albernheiten passen gut zueinander. So waren auch in den Documenta-Besucherschulen am interessantesten die unerwarteten Aphorismen, die wie Brechtsche Verfremdungen in die Vorträge der Kunstvermittlung einflossen. Sie sprengten das Kunstthema wie Botschaften aus dem kulturellen Unbewussten. Und manchmal waren sie überhaupt nicht albern.

Einer dieser Aphorismen war von besonderer Durchschlagskraft. Es war der Ausdruck: „der verbotene Ernstfall“. Welcher Bezug wurde hier hergestellt? Verbotener Ernstfall, ist das nicht auch eine Absurdität? Denn der Ernstfall, wenn er denn eintritt - , man kann ihn nicht verbieten. Man kann nicht verbieten, dass das Haus abbrennt.

„Ernstfall“, dabei denkt man in der Mitte des 20ten Jahrhunderts vor allem an den Atomkrieg. „Ernstfall“ bedeutet aber auch: „ius ad bellum“, Recht auf Krieg“. „Verbotener Ernstfall“ bedeutet somit: all das möchte man am liebsten verbieten: Atomkrieg, Krieg, und damit: Souveränität, Recht auf Krieg und Hochverrat, - der übrigens im Naziregime etwas anderes gewesen wäre als in den USA und in der damaligen Bundesrepublik Deutschland. Gab es im Nachkriegsdeutschland überhaupt noch die Möglichkeit des Hochverrats? Nein! Auch diese Möglichkeit gehörte zu den Halluzinationen des Ernstfallverbots.

Was hatten kunstfremde Äußerungen wie der Aphorismus vom verbotenen Ernstfall in Ausstellungen mit abstrakten Kunstwerken zu suchen? Waren sie ergänzende Bildbeschreibungen, so wie die Bildbeschreibungen früherer Zeiten, die Bilder ersetzen mussten, weil es noch keine mechanisch erzeugten Bildkopien gab? Nein! Sie waren keine Bildergänzungen. Sie ergänzten etwas anderes. Sie halluzinierten die Kriegsvisionen der verdrängten Vergangenheit und sie halluzinierten das verdrängte decorum. Denn der Abstrakte Expressionismus war von seinen Erfindern entwickelt worden, um durch Bilder übertragenes Decorum-Verhalten zu verhindern. Er sollte das Decorum-Verhalten verhindern und die damit verbundene Einheit von Kunstrespekt, Staatsrespekt, Souveränitätsrespekt, souveränem Strategiedenken und militärischer Mobilisierungsbereitschaft.

Wohl bemerkt: Decorum bedeutet: Übereinstimmung von politischer und ästhetischer Wertschätzung. Diese Kopplung war durch den Weltkrieg, durch eine historische Traumatisierung und durch die damit verbundene dissoziative Amnesie auseinandergefallen. Es war nur der ästhetische Anteil geblieben. Der politische Anteil war in Vergessenheit geraten und hatte eine Leerstelle zurückgelassen. Für Leerstellen gilt: Sie sind hochproblematisch. Denn im Fallbeispiel „verdrängtes decorum“ gilt die Regel: Entfällt der politische Respekt für die Kunst, dann entfällt bald auch der ästhetische Respekt. Dann entsteht eine Kultur der Halluzinationen und der Albernheiten à la Marcel Duchamp. Und dann entstehen gleichzeitig die Albernheit der Kunst und die Kunst der Albernheit. Das Ergebnis ist eine leichte Beute für die Übernahme durch künstliche Intelligenz.

Die größten Influencing-Hintergrundstrategen aller Zeiten waren die genialen Mitglieder der amerikanischen Geheimdienste, die den Abstrakten Expressionismus promotet hatten. Doch zum Konzept ihrer Promotionsarbeit gehörte die Geheimhaltung. Denn die Resultate ihrer Einflussnahme konnten nur funktionieren unter der Bedingung, dass man sie für etwas hielt, was von selbst entstanden war.

Das Zusammenwirken der Influencingstrategen aus den amerikanischen Geheimdiensten und der ersten Art-Influencing-Kampagne auf der deutschen Documenta erschuf die Moderne. Die Influencingstrategen machten auf diese Weise aus der Kunst des alten Europa ein Influencing-Projekt. Das blieb während der Anfangszeit unter dem Schleier des Bildungsverhaltens der Museumsbesucher verborgen. In den Art-Influencer-Rankinglisten der „Art Review“ tritt es nun offen zu Tage.

Die Art-Influencer der Art-Review-Liste und die NFTs erreichen ihr Publikum über Online-Plattformen. Ausstellungen wie die Documenta werden nicht mehr gebraucht. Da wirkt es wie eine Fügung des Schicksals, dass die Documenta im Jahr 2022 tatsächlich in eine so tiefe Krise gerät, dass man um ihr Ende fürchten muss. Wenn diese Krise tatsächlich das Ende der Dokumente bewirkt, fällt dann dieses Ende der Documenta zusammen mit dem Ende einer ganzen geopolitischen Epoche?

An dieser Stelle ist eine kurze Bilanz von Nutzen:

Die Documenta sei von Anfang an ein Influencerprojekt zur Schaffung einer Nachkriegsordnung gewesen. So lautete meine These. Durch dieses Influencerprojekt sei die kulturelle Selbstwahrnehmung der Kunstmoderne erst möglich geworden. Wenn dieser ganze Komplex nur durch Influenceraktivität ermöglicht wurde, dann ist die Moderne in ihrem Funktionskern von Influencerarbeit abhängig.

Wenn somit die Kunstmoderne von Anfang an ein Influencer-Phänomen war, dann würde sich auf diese Weise erklären lassen, dass sich die Wichtigkeit der Influencer auf Dauer nicht verheimlichen lassen würde, und dass sie – siehe die Rankingliste der Art-Review – eines Tages offenkundig werden müsste. Wenn ich mich an diesem Punkt meiner Überlegungen von kulturgeschichtlichem Cassandraverhalten leiten lasse, dann prognostiziere ich, dass mit dem Untergang der Documenta auch die Art-Influencer untergehen werden, und dass diese Ereignisse – wie die Auspizien bei den alten Römern - das Ende einer geopolitischen Epoche und den Anfang einer neuen Epoche ankündigen.

Die Indikatoren der neuen Epoche sind allzu offenkundig. Erstens: Es gibt eine Epidemie bzw. Pandemie, wie sie die Menschheit noch nie gesehen hat. Weder hat es je in der uns bekannten Natur eine derartige Ansteckungsgeschwindigkeit noch eine derartige Mutationsgeschwindigkeit gegeben. Das ganze naturwissenschaftliche Forschungssystem mit seinen Standards und Qualitätskontrollen ist in die Krise geraten. Denn es ist zu langsam für eine Natur die mit einem Tempo evolviert, mit dem man nie gerechnet hätte.

Das zweite Symptom des Umbruchs ist ein Krieg, mit dem man nicht gerechnet hätte. Denn es handelt sich um einen schwer durchschaubaren Krieg, der auf den ersten Blick wie ein nationaler Eroberungskrieg erscheint, der mit dem Ziel des Terraingewinns geführt wird, der aber vor allem eine geostrategische Kräfteverschiebung auf dem größten Kontinent der Erde zu bewirken scheint.

Durch das Koinzidieren von mehreren Katastrophen entsteht immer eine korrelierte Hyperkatastrophe, auch wenn man die einzelnen Katastrophen nicht auf eine gemeinsame Ursache zurückführen kann. Es entsteht ein Katastrophenaggregat nach dem Motto: „Wir haben schon die Pandemie! Jetzt kommt auch noch der Ukrainekrieg!“ Und für die Freunde der Documenta kommt noch hinzu: „Jetzt haben wir auch die schöne Documenta nicht mehr!“

Die Documenta ist gescheitert, weil die Annahme, wir lebten in einer globalen Universalkultur, irrig ist. Denn die Verantwortlichen der Documenta haben ihre Kompetenz, die Kompetenz des „allmächtigen Kurators“ der Moderne, an ein Kollektiv übergeben. Dieses Kollektiv entstammt einer fremden Kultur, und zwar einer Kultur mit der weltweit höchsten muslimischen Bevölkerungszahl (ausgedrückt sowohl in relativen als auch in absoluten Zahlen). Bei dieser Übergabe hat sich herausgestellt, dass die duchampeske Umgehung von Ernsthaftigkeit nicht exportierbar ist. Denn die antisemitische Ikonologie, die auf der Documenta 2022 gezeigt wurde, war todernst. Es gab keine ironischen Hintertürchen.

Fazit: Das entschuldigende Grinsen à la Duchamp, diese unverzichtbare Selbstlegitimation der Kunstmoderne, es ist das Insidergrinsen einer bestimmten Einzelkultur. Es funktioniert nur „in“ etwas und nicht überall. Am Ende dieses ersten Kapitels „Vorspiel im Museum“ stehen zwei Analyseergebnisse. Das erste ist eine Hypothese:

Wenn während der kritischen Phase der frühen Documenta-Ausstellungen der erste Art-Influencer der Moderne auftrat, und wenn die Arbeit dieses Influencers aus der Kompensation des fehlenden decorum bestand, dann koinzidierten in diesem Kulturereignis zwei Phänomene: die Abschaffung des decorum, und die neue Mode, Influencer zu engagieren. Kann es sein, dass dieses Koinzidieren mehr ist als die zufällige Zeitgleichheit von zwei Phänomenen? Kann es sein, dass die Kunstmoderne mit quasi naturwissenschaftlicher Notwendigkeit nur mit verdrängtem decorum funktionieren kann, und dass dieses Fehlen des decorum zwangsläufig den Bedarf an Influencern erzeugt? Aus dem Umkehrschluss dieser Frage ergäbe sich dann die angekündigte Hypothese: Decorum kann nicht mit Influencern funktionieren. Es kann nicht funktionieren, wenn man darüber spricht.

Das aber würde bedeuten: Wenn man keine Art-Influencer mehr braucht, ist das ein Zeichen dafür, dass man auch Ausstellungen wie die Documenta nicht mehr braucht. Mit anderen Worten: Für das geniale Nachkriegsprojekt der amerikanischen Geheimdienstleute gilt der Satz: „Mission accomplished“.

Das zweite Analysergebnis hat weiterreichende Konsequenzen. Dieses Ergebnis betrifft die deskriptive Kompetenz des Decorum-Begriffs. Es ist von Bedeutung, weil es Konsequenzen hat, die über die Verbesserung des Verständnisses einer stressreichen Kriegs- und Nachkriegszeit hinausgehen. Das zweite Analyseergebnis zeigt die Totalität der westlichen Kultur - von den alten Griechen bis zur letzten Influencerliste aus London - als eine Kultur, die, offen oder verdrängt, vom decorum geprägt ist. Das Wirken des decorum war offenkundig bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Dann wurde es in Deutschland durch den Einfluss der geheimen Influencing-Strategen verdrängt. In den USA, dem Heimatland dieser Geheimstrategie, wurde es weiter gepflegt. Dann wirkte es in Deutschland aus der Verdrängung weiter wie eine freudsche Neurose. Dieses verdrängte kulturelle Unbewusste wurde in den Influence-Aktionen der Kasseler Documenta symptomartig erkennbar wie durch freudsches Fehlverhalten, bei dem Menschen sich verplappern. Denn der erste Influencer, Bazon Brock, wusste noch nichts von der Hintergrundarbeit der Geheimdienstleute. Die ahnungsvollen Enthüllungen dieser Zusammenhänge, die in den Besucherschulen zum Ausdruck kamen, waren noch vage und orakelartig. Sie wirken wie Gedanken, die auf intuitive und zufällige Weise entstanden sind. Doch das macht sie umso interessanter.

Mit dem Analyseergebnis, das decorum sei auch im Deutschland der Bundesrepublik real, allerdings im Modus der Verdrängung, – und das decorum sei ohne Verdrängung real in den USA – mit dieser Analyse ergibt sich die Möglichkeit, die westliche Kultur als ganze mithilfe des Begriffs „Decorum-Kultur“ zu kategorisieren. Demnach erscheint die westliche Kultur von der Zeit der alten Griechen bis heute als eine Kultur, die vom Decorum-Verhalten geprägt ist.

Diese Sichtweise eröffnet neue Erkenntnismöglichkeiten für die Kulturwissenschaft. Denn das Relativismus-Konzept der Kulturwissenschaft geht davon aus, dass Erkenntnisse über Kulturen nur durch Kulturvergleiche gewonnen werden. Das bedeutet: wenn wir unsere eigene Kultur verstehen wollen, dann müssen wir unsere Kulturdeutung in eine Richtung lenken, deren Resultate aus Kategorien bestehen, die auch für andere Kulturen anwendbar sind. Eine derartige Kategorie ist das Konzept „regelgelenktes Verhalten“. Dabei hat das Wort „Verhalten“ die Bedeutung des Behavior-Begriffs der Ethologie.

Ein Beispiel von „regelgelenktem Verhalten“ ist das Regelsystem des decorum. Ein anderes Beispiel ist das „li-System“ der chinesischen Kultur. Nachdem wir also die Relevanz des Decorum-Begriffs für die Gänze der westlichen Kultur nachgewiesen haben, können wir die Decorum-Kultur (Europa/USA) mit der li-Kultur (China) vergleichen und dabei nach den strukturellen Unterschieden suchen, die decorum-Regeln und li-Regeln voneinander unterscheiden. Diese Unterscheidung wird dann dargestellt im Bezugsraum der Menge aller Strukturen von „regelgelenktem Verhalten“.

Wenn die italienische Renaissance, wie ich oben sagte, in ihrem Kerneffekt eine Renaissance des decorum war, dann tritt zur westlichen Variante des regelgelenkten Verhaltens – sprich zum decorum – der kulturelle Effekt der Renaissance hinzu. Man kann sich also fragen, ob Renaissancen immer decorum-affin sind, und ob das decorum-System von Natur aus Renaissance-affin ist. Oder in der abstrakteren Formulierung: Sind Renaissancen Evolutionsphänomene, die sich im Bereich des regelgelenkten Verhaltens abspielen und, vice versa: Bringt regelgelenktes Verhalten immer Renaissancen hervor? Das wirft die Anschlussfrage auf, ob regelgelenktes Verhalten, kombiniert mit der Erfahrung von Renaissance kulturelle Selbstvergewisserung, kulturellen Stolz und kulturelle Aufbruchsstimmung erzeugt. Denn kultureller Stolz und kulturelle Aufbruchsstimmung können als Strategeme der Geostrategie fungieren.

Bezogen auf den Kulturvergleich „decorum-Kultur vs. li-Kultur“ ergibt sich somit die Frage: Gibt es Renaissancen auch in der li-Kultur, und sind auch sie mit Stolz und Hoffnung verbunden?

Renaissancen, so lautet eine von mir vorgeschlagene Definition, sind die einzigen Evolutionsphänomene, in denen verlorene Komplexität zurückgewonnen werden kann.

Renaissancen, so lautet eine weitere Definition, bieten die einzige Möglichkeit der kulturellen Eigenwahrnehmung. Denn nur indem sich die Menschen einer Veränderung des Prozesses bewusst werden, in den sie selbst involviert sind, nehmen sie diesen Prozess von innen wahr, ohne ihn von außen zu betrachten und mit anderen Prozessen zu vergleichen. Deshalb die Definition: Renaissance ist kulturelle Propriozeption.

Zweiter Teil: Autopoiesis einer Epoche – Das multiple Krisensystem

Über die geniale Erfindung des abstrakten Expressionismus durch die amerikanischen Geheimdienste habe ich das Buch „Der Kunstkrieg“ geschrieben.

Die bereits während des Krieges gestarteten Nachkriegsvorbereitungen der Amerikaner (Beispiel: der Abstrakte Expressionismus) zeigten strategische Kompetenz. Denn der wichtigste Teil der Kriegsstrategie besteht aus dem Herbeiführen eines Zustandes, der es nach dem Sieg ermöglicht, die Besiegten zu regieren. Die Verdrängung des decorum aus den Köpfen der Deutschen war eine strategische Meisterleistung. Der wichtigste Teil dieser Arbeit wurde bereits während des Krieges, und zwar während der letzten drei Kriegsjahre geleistet. Dieses Timing war entscheidend für den späteren Erfolg.

Außer der Bereitstellung des abstrakten Expressionismus gab es eine zweite friedensvorbereitende Maßnahme durch die Amerikaner. Sie war noch wichtiger. Auch sie wurde während der letzten Kriegsjahre in die Wege geleitet. Ich habe auch darüber ein Buch geschrieben. Es hat den Titel „Europa im Weltwirtschaftskrieg“.

Diese zweite siegvorbereitende Maßnahme – Siegesgewissheit war bereits das Losungswort der Amerikaner, denn in der strategischen Situation ihres Kriegseintritts konnten sie nur noch gewinnen – die zweite Siegvorbereitung der Amerikaner leitete die Epoche ein, die 1945 begann und jetzt zu Ende geht. Es ist die Epoche des Regelkreises „Wachstumswirtschaft /Klimazerstörung /Artensterben / Pandemie“ und – als in Regelkreisen obligatorische Rückkehr zum Anfang – „Schwächung der Wachstumswirtschaft durch Pandemieeinwirkung“. Durch die Rückkehr zum Anfang wird dieses Beispiel eines Regelkreises zur negativen Feedbackschleife. Neu an dieser Geschichtsperspektive ist die Kategorisierung einer historischen Epoche als homeostatisches System eines Regelkreises.

Im Frühjahr 2020 kam die Covid19-Pandemie. Es folgten die Schließungen und die Kontaktverbote.

Durch die Pandemie hatte sich die Welt auf eine Weise verändert, die ich nie für möglich gehalten hätte. Wie konnte das passieren? Etwas Unerwartetes und unfassbares war plötzlich einfach da. Es war eine Seuche mit einem Erscheinungsbild ohne jedes historische Präzedenzbeispiel. Durch welche Verwicklung von Naturereignissen konnte so etwas entstehen? Was da entstanden war, war auf eine absurde Weise erhaben, denn es war groß, doch man konnte nichts sehen. Früher wurden die erhabenen Gefühle immer durch den Blick auf Naturgewalten oder unendliche Horizonte ausgelöst. Es gab immer einen sichtbaren Teil und einen Teil, der das Fassungsvermögen überschritt. Bei SARS CoV2 sah man gar nichts. Man musste nur an die epidemiologischen Modelle und ihre Extrapolationen glauben.

Ich sprach von einem Regelkreis, der aus den Funktionselementen Wachstumswirtschaft, Klimazerstörung, Artensterben und Pandemie besteht. Gestartet ist die Dynamik dieses Regelkreises – ich hole jetzt weit aus – im Jahr 1944 bei der Währungskonferenz von Bretton Wood. Nein! Falsch! Angefangen hatte es schon früher. In Bretton Wood ging es um die Schaffung einer Weltleitwährung. Aber der Kampf um den Besitz einer Leitwährung hatte schon wesentlich früher begonnen.

Walther Funk war während der Nazizeit in Deutschland das, was einem heutigen Finanzminister entspricht. Und er war Leiter der Notenbank. Unter seiner Federführung strebte das Naziregime, lange vor Bretton Wood, die Schaffung eines europäischen Leitwährungssystems an. Leitwährung sollte selbstverständlich die deutsche Reichsmark werden. In Reichsmark sollten alle transnationalen Geschäfte fakturiert werden. Unter diesem System sollten die führenden kontinentaleuropäischen Staaten zusammengefasst werden.

Das Besondere an Funks Plänen war: Sein Leitwährungssystem sah die Einrichtung einer Clearingsstelle vor. Mithilfe eines Clearingssystems sollten Ungleichheiten bei den Handelsbilanzen ausgeglichen werden. Das bedeutet: Es sollte einen Ausgleich geben zwischen Staaten mit Handelsbilanzüberschüssen und solchen mit Handelsbilanzdefiziten, um das geplante transnationale Wirtschaftssystem dauerhaft funktionsfähig zu halten. Das bedeutete in diesem Fall: Deutschlands Nachbarstaaten hätten sich zwar der deutschen Hegemonie unterordnen müssen, hätten aber trotzdem von diesem Leitwährungssystem profitiert. John Maynard Keynes, das spätere Idol aller Ökonomen mit sozialdemokratischen Politikzielen, sprach den deutschen Plänen wegen der geplanten Clearinginstitution seine Anerkennung aus.

Bereits lange vor Bretton Wood war den Staatsoberhäuptern bekannt, dass die Schaffung der deutschen Reichsmark als Leitwährung eines der Kriegsziele des Zweiten Weltkriegs war. Denn um ihre Leitwährungspläne in der Realität durchzusetzen, mussten die Deutschen erst den Krieg gewinnen.

Der Besitz der internationalen Leitwährung war somit die wichtigste Siegestrophäe des Zweiten Weltkriegs. Das dürfte die Amerikaner bewogen haben, in den Krieg einzutreten. Konsequenterweise war das Ergebnis der Konferenz von Bretton Wood, in der es um die Einrichtung einer Leitwährung nach dem Ende des Krieges ging, das wichtigste Vorbereitungsereignis für den Kriegsausgang. Das Ergebnis der Bretton-Wood-Beratungen war die Kriegsbeute des Zweiten Weltkriegs.

Am Konferenztisch in Bretton Wood saßen auch die Briten vertreten durch den bereits erwähnten John Maynard Keynes. Auch Keynes schlug – wie vor ihm die Nazis – ein Clearingssystem für die angestrebte Leitwährung vor. Er nannte es „Bancor“. Beim „Bancor“ sollte es sich um eine virtuelle Währung handeln, die nicht für die Bezahlung von realen Wirtschaftsleistungen benutzt werden sollte, sondern nur für die Balance von Außenhandelsungleichheiten, mit anderen Worten, für die Kompensation von Außenhandelsüberschüssen und -Defiziten.

Keynes konnte sich in Bretton Wood nicht durchsetzen. Die Amerikaner setzten sich durch und machten ihren Dollar zur Leitwährung, ohne Clearingssystem, mit dem einzigen Zugeständnis, dass der Dollarwert fest an einen genau bestimmten Goldwert gekoppelt werden sollte, und dass jeder auf der Welt, der Dollar besitzen würde, jederzeit von der amerikanischen Notenbank verlangen könnte, seinen Dollarwert in Gold ausgezahlt zu bekommen.

Die Leitwährung war also Kriegseinsatz und, für die Sieger, Kriegsgewinn. Die Bretton-Wood-Konferenz hatte alles im Voraus geregelt. Die Alliierten gewannen den Krieg. Die Amerikaner gingen mit der Kriegsbeute nachhause: nämlich mit der Leitwährung. Die Goldgarantie wurde nach einigen Jahren aufgehoben. Danach hatten die Amerikaner nur noch die Leitwährung ohne Gegenleistung.

Triffin-Dilemma, benannt nach dem belgischen Ökonomen Robert Triffin, wird folgender Effekt genannt: Ein Staat, dessen Nationalwährung eine Leitwährung ist, verschuldet sich immer überproportional im Vergleich zu den anderen Staaten. Dollar-Leitwährung bedeutet dann: Der internationale Rohstoffhandel und der internationale Energiehandel (Erdöl etc.) werden in Dollar bezahlt. Dann haben alle, die auf der Welt in diesem Geschäft Geld verdient haben, Dollar verdient. Was tun sie mit ihren Dollar? Sie legen sie an. Was bedeutet „anlegen“? Es bedeutet: verleihen gegen Zinsen. Und wem leihen die Dollarverdiener ihre Dollar? Sie leihen sie dem Staat, in dem die Dollar nationales Zahlungsmittel sind. Auf diese Weise erhalten die USA permanent das größte Kreditangebot der Welt.

Dieses nicht abreißende Kreditangebot an die USA bildet den Haupteinfülltrichter für den Geldzufluss der weltweiten kreditbasierten Wachstumswirtschaft. Denn es gilt folgendes Prinzip: Wer Kredite annimmt, um seine Wirtschaftsaktivität zu finanzieren, muss wachsen. Er muss im Vorfeld bereits in ausreichender Menge Geld verdient haben, ansonsten hätte er keine Bonität für einen Kredit. Er könnte sich folglich mit dem bereits Erreichten zufrieden geben. Er muss aber, sobald er einen Kredit angenommen hat, nach einem kreditfinanzierten Verkaufs- und Lieferzyklus mehr verdient haben als in der vorletzten Geschäftsphase, als er den Kredit noch nicht eingesetzt hatte, aber die Bonität, die ihn kreditwürdig macht, bereits erwirtschaftet hatte. Wenn er nicht wachsen würde, würde der Kredit sich nicht rentieren. Wenn er sich aber definitiv gegen eine Kreditaufnahme und gegen Wachstum entscheiden würde, und wenn sich zur selben Zeit ein konkurrierender Unternehmer für Kredit und Wachstum entscheiden würde, dann geriete er in Zugzwang. Denn er würde in der Folgezeit gegenüber der wachsenden Konkurrenzfirma stetig zurückfallen und schließlich nicht mehr „konkurrenzfähig“ sein. Es wird erkennbar, wie tief das Wachstumsprinzip in diesem System verwurzelt ist.

Auf diese Weise wuchs auch die amerikanische Wirtschaft als ganze. Und die Staaten auf der Welt, die mit den Amerikanern konkurrieren wollten, mussten ebenfalls wachsen. Weil aber überall in dynamischen Systemen gefährliche Hyperzyklen lauern, blieb auch die globale Wachstumswirtschaft nicht von diesem Selbstverstärker verschont. Um ihre Leitwährung zu stabilisieren, sicherten sich die Amerikaner das System des sogenannten „Petrodollar“. Das war die vertragliche Garantie, dass alle Erdöllieferungen der Golfstaaten in Dollar fakturiert wurden. Dafür mussten die Amerikaner eine Gegenleistung bieten und ein Angebot machen, das man nicht ablehnen konnte. Diese Gegenleistung war die militärische Schutzgarantie, die gegen alle Anfeindungen gerichtet war, die von neidischen Nachbarstaaten ohne Erdöl ausgingen und sich gegen die Ölstaaten richteten.

Es handelte sich um militärischen Schutz, der glaubhaft sein musste. Auf diese Weise entstand die amerikanische Geostrategie der Ozeane. Sie ist zu unterscheiden von Geostrategien, die sich zwischen Staaten mit kontinentalen Nachbarschaften entwickeln. Die Amerikaner mussten eine hoch technische, mobile Armee mit weit reichenden Waffen aufbauen, um die ubiquitäre Präsenz ihrer Macht glaubhaft zu machen. Die typischsten Waffeneinheiten dieser Art von Armee sind sich selbst steuernde Raketen und Flugzeugträger. Die Steuersysteme der Raketen sind Computer. Die Verkleinerung der Computer und die damit verbundene, für die Raketen wichtige Gewichtsreduzierung gelang als ersten den Amerikanern. Das machte ihre geostrategische Macht für Jahrzehnte uneinholbar, zum Beispiel im Vergleich zur Sowjetunion.

Die Verkleinerung der computerbasierten Raketensteuerung brachte den für lange Zeit unerreichbaren Vorsprung der amerikanischen Computerindustrie mit sich, der wie alle Militärtechnologien der Geschichte auf den zivilen Bereich übertragen wurde. In dieser Zeit entstand auch die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem amerikanischen Verteidigungsministerium und den Universitäten (Beispiel: das MIT) , die sich auf diese Weise zu international führenden Eliteuniversitäten entwickelten.

Diese Innovationsdynamik kostete viel Investitionsgeld, und die finanzielle Allokation dieser Wachstumsdynamik erfolgte durch den Kreditfluss, über den die USA dank Leitwährung und Petrodollar verfügten. Die USA verschuldeten sich als gäbe es kein Morgen. Und sie konnten die Rückzahlung ihrer Schulden durch die Inflationssteuerung ihrer nationalen Währung beeinflussen. Späte Erfolgstories der amerikanischen Kredithegemonie sind Unternehmen wie die Megafirmen von Elon Musk und Jeff Bezos.

Apropos: Selbststabilisierung durch Bildung von Hyperzyklen. Bei der kreditfinanzierten Wachstumswirtschaft vom Typ USA handelte es sich um den Hyperzyklustyp „Coercion-Extraction-Cycle“. „Coercion-Extraction“ bedeutet: man muss durch „Extraction“, d.h. durch den Gewinnsentzug, den man dem Rest der Welt durch Leitwährungskredite „entnimmt“ („extrahiert“), das Militärsystem bezahlen können, mit dessen Hilfe man den Rest der Welt bedroht, so dass niemand es wagt, aus dieser Abhängigkeitsschleife auszusteigen.

Die Epoche der Weltgeschichte, die sich jetzt ihrem Ende zuneigt, ist schicksalhaft an die Omnipräsenz der amerikanischen Streitkräfte gekoppelt. Und auf diese Weise funktioniert 2000 Jahre nach dem Ende des römischen Imperiums eines der perfektesten Decorum-Systeme, das die Welt je gesehen hat. Denn die kreditfinanzierte Wachstumswirtschaft ist im Kern ein Coercion-Extraction-Kreislauf, und die Militärfahne, die über dieser Wirtschaft flattert, ist der Stolz der okzidentalen Decorum-Tradition.

Decorum, so sagte ich, sei die Übereinstimmung von politischem und ästhetischem Respekt. Die Quelle dieses Respekts ist die maiestas des Staates, die auch Souveränität genannt wird. Dieses decorum ist eine Embodiment-Erfahrung, denn der Respekt, den der Staat in seiner vollen Souveränitätsentfaltung einflößt, ist wie die körperliche Erinnerung an eine Begegnung mit der Autorität des Staates, zum Beispiel wenn man von der Polizei beim Autofahren angehalten wird. Man weiß dann, dass man den Anweisungen der Polizei gehorchen muss, und dass man, im Falle der Verweigerung dieses Gehorsams, mit Handschellen gefesselt werden kann. Das ist das Bauchgefühl, dass die Polizei und der souveräne Staat auslösen.

Das amerikanische decorum hat aus Europa und vor allem aus Deutschland „Vasallen“ gemacht durch die Abschwächung der Decorum-Systeme in den europäischen Staaten und durch die totale Eliminierung von Decorum-Verhalten in Deutschland. Der Vasallenstatus wird nirgendwo so deutlich, wie in den programmatischen Schriften zur amerikanischen Militärdoktrin, deren Autor Zbigniew Brzezinski ist. Die Inhalte dieser Schriften sind in der Brutalität ihres strategischen Kalküls so knallhart, dass man meint, etwas derartiges könne es gar nicht geben, und bei so etwas müsse es sich um Projektionen von Verschwörungstheorien europäischer Fanatiker handeln.

Über Brzezinskis Buch „Die einzige Weltmacht“ schrieb ich für die „Neue Zürcher Zeitung“ den im Folgenden abgedruckten Essay. Ich schrieb ihn während der Anfangszeit der Trump-Präsidentschaft. Der Essay wurde abgelehnt. Dazu ist anzumerken, dass die „Neue Zürcher Zeitung“ vorher bereits Beiträge von mir veröffentlicht hatte, manchmal sogar mit messbarem Erfolg bei den Lesern. Es ist somit anzunehmen, dass der Inhalt dieses Essay der Zeitung nicht opportun erschien. Der verantwortliche Redakteur war damals René Scheu, der sich gelegentlich in Mails über die „schwindenden Ressourcen“ bei seiner Zeitung beklagte und inzwischen der Zeitungsarbeit komplett den Rücken gekehrt hat.

Abgelehnter Essay „Strategisches Zwielicht“

„Was du nicht willst, dass man dir tu, das füge ander’n Menschen zu!“ Dieser Satz ist selbst als Satire schwer zu ertragen. Denn das Sprichwort, das hier verballhornt wird, ist mehr als ein Sprichwort. Es drückt einen ethischen Instinkt aus, - einen ethischen Instinkt, vergleichbar mit dem Instinkt der angeborenen Tötungshemmung. Dennoch: Der Lehrsatz „Füge anderen Schaden zu!“ ist unbestreitbar das oberste Gebot der Militärstrategie, - und Militärstrategie beherrscht die Welt.

Kultivierte Menschen geraten in Konflikt mit ihren Grundüberzeugungen, wenn sie die Doktrinen der Geostrategie kennen lernen – zum Beispiel, wenn sie in dem berühmten Buch „Die einzige Weltmacht“ das Kapitel über geostrategische Dreh- und Angelpunkte lesen. Autor dieses Buchs ist Zbigniew Brzezinski. Brzezinskis These lautet: Wenn die USA Weltmacht sein wollen, müssen sie dafür sorgen, dass ihr Einfluss auf Europa und Asien größer ist als der Einfluss irgendeines Staates, der selbst in Europa oder Asien angesiedelt ist.

Brzezinski war Pole. Er war der einflussreichste geopolitische Berater von Präsident Carter. Sein Einfluss auf die amerikanische Außenpolitik war auch vorher schon groß gewesen. Bei seinen Interventionen zur Zeit der Präsidenten Clinton, Bush und Obama, ging es meistens nur noch um die richtige Umsetzung seines Grundkonzepts. Ob auch Präsident Trump gemäß der Brzezinski-Doktrin Geopolitik macht, muss der politische Beobachter noch herausfinden.

Was die Brzezinskis Doktrin selbst betrifft: Dies sind ihre wichtigsten Thesen: Die geographische Zone „Mitteleuropa/Osteuropa“ ist das „Herzland“ der Geostrategie. Wer Osteuropa beherrscht, beherrscht das Herzland. Wer das Herzland beherrscht, beherrscht die „Weltinsel“ (gemeint ist der eurasische Kontinent). Wer die „Weltinsel“ beherrscht, beherrscht die Welt.

Brzezinski unterscheidet geostrategische „Hauptakteure“ von geostrategischen „Dreh- und Angelpunkten“, die er „Katalysatoren“ nennt. „Hauptakteure“ sind Frankreich, Deutschland, Russland, Indien und China. Er rechnet weder Großbritannien noch Japan noch Indonesien zu den Hauptakteuren. „Katalysatoren“ sind: die Ukraine, Aserbaidschan, Iran, die Türkei und Südkorea.

Brzezinki spricht von drei geostrategischen Grundregeln. Diese Grundregeln stellt er vor, indem er die Sprache der historischen Imperien verwendet: Erste Grundregel: Die Weltmacht muss Absprachen unter den „Vasallen“ verhindern. Zweitens, die „Vasallen“ müssen von der Weltmacht in verteidigungspolitischer Abhängigkeit gehalten werden. Drittens, die „tributpflichtigen“ Staaten müssen fügsam gehalten werden, und es muss dafür gesorgt werden, dass auch die „Barbaren“ sich nicht miteinander verbünden.

Die Katalysatoren-Staaten, z.B. Korea, sind laut Brzezinski hochgradig instabil. Dort können geringe lokale Veränderungen große globale Veränderungen bewirken. Sie können den Balancezustand unter den Hauptakteuren verändern, z.B. die Ballance zwischen China und den übrigen eurasischen Staaten.

In den Katalysator-Staaten muss die Weltmacht ständig wachsam sein und Einfluss nehmen, zum Beispiel indem sie Dissidenten durch Demokratiebewegungen unterstützt.

In den Hauptakteur-Staaten muss die Weltmacht die Eliten kontrollieren. Hier wird Kulturarbeit empfohlen. Sehr wirkungsvoll ist zum Beispiel die Kontrolle über die Kunst und über das Clubwesen, vor allem über das Prestige, das durch die Mitgliedschaft in Clubs zu gewinnen ist. Dabei muss stets dafür gesorgt werden, dass die Mitglieder der amerikanisch orientierten Clubs die Vornehmsten und Erfolgreichsten sind.

Die zweite der drei geostrategischen Grundregeln lautet: „Die Hauptakteure müssen militärisch von den USA abhängen“. Militärische Abhängigkeit kann nur durch Drohung, monopolisierte Waffenlieferung, waffentechnische Überlegenheit und reale Kriege aufrechterhalten werden.

Für alle geostrategischen Doktrinen gilt folgendes: Letztlich geht es immer um Militäreinsätze. Deshalb erzeugt Geostrategie mit logischer Notwendigkeit als Endeffekt und als theoretische Grundannahme eine Situation, in der zwei Parteien einander gegenüberstehen, die voneinander wissen, dass sie nichts anderes wollen als gegenseitige Zerstörung. Ist diese Situation einmal eingetreten - in der Theorie oder in der „Praxis“ - switcht das Denken in den Modus „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füge ander’n Menschen zu!“ Wenn dieser Modus erreicht ist, verändern sich die Gesetze der Logik. Es beginnt das Rollendenken des Bösen. Es beginnt das Denken der Lüge, der Täuschung und der Kriegslist.

Die strategische Logik ist paradoxal. Sie ist nicht linear wie - sagen wir - das Denken eines Handwerkers, der einen Nagel in die Wand schlagen will. Müsste er seinen Nagel nach der paradoxalen Logik der Militärstrategie in die Wand schlagen, dann müsste er in sein Denken einbeziehen, dass das Vorhandensein der Wand da, wo sie sich befindet, eine Kriegslist sein könnte. In diesem Fall würde die Wand nur so tun, als ob sie ruhig dastände. Sie würde ruhig dastehen, um den Handwerker dazu zu verleiten, seinen Nagel in sie hineinzuschlagen. Die Wand würde sich aber, sobald der Handwerker mit dem Einschlagen beschäftigt wäre, mit einem Teil ihrer Länge von hinten an ihn heranschleichen, um einen Nagel in den Handwerker hineinzuschlagen. Mit anderen Worten: Sobald geklärt ist, dass Militärstrategie im Spiel ist, weiß man nicht mehr, ob das, was die Gegenseite tut, einfach nur dumm ist, oder ob es sich um eine Kriegslist handelt, die man noch nicht verstanden hat.

Zbigniew Brzizinski ist im Mai 2017, gestorben. Zur Zeit seines Todes bereiste Donald Trump zum ersten Mal als Präsident der USA den eurasischen Kontinent. Ein Omen? Außer diesem Koinzidenzereignis gab es 2017 noch das beinahe Koinzidenzereignis von Trumps Chinareise, von Xi Jinpings weltbewegender Parteitagsrede und vom erfolgreichen Start der ersten nordkoreanischen Interkontinentalrakete. Die rasante ökonomische und militärtechnische Entwicklung Chinas und die ruhige Selbstsicherheit der chinesischen Staatsführung lassen vermuten, dass eine der Grundforderungen der Brzezinski-Doktrin bereits jetzt nicht mehr funktioniert. Es fällt inzwischen schwer, daran zu glauben, dass der Einfluss der USA auf dem eurasischen Kontinent größer ist als „der Einfluss eines anderen Staates, der selbst auf dem eurasischen Kontinent angesiedelt ist“. Wenn es sich beim eurasischen Kontinent tatsächlich um die geostrategische Zone handelt, in der sich entscheidet, welcher Staat „die einzige Weltmacht“ ist, dann ist dieses „theatre of war“ inzwischen an dem Punkt angekommen, den die Theaterleute „Peripetie“ nennen.

Hinzukommen Ereignisse von höchster Dramatik: Südkorea wird in der Brzezinski-Doktrin „Katalysator“ genannt. Wenn wir einmal Nordkorea und Südkorea als eine einzige geostrategische Zone zusammenfassen - schließlich sind seit 2017 zwischen Nord- und Südkorea zahlreiche Annäherungen zu beobachten - dann hat durch den Erfolg der nordkoreanischen Interkontinentalrakete im Jahr 2017 ein geostrategisches Katalysator-Ereignis von größter Tragweite stattgefunden: Aus der Sicht der Brzezinski-Doktrin ist der Balancezustand unter den Hauptakteuren des eurasischen Kontinents ins Wanken geraten. Zur Erinnerung: Hauptakteure sind China, Russland, Indien, Frankreich und – nicht zu vergessen – Deutschland.

Wie passt das außenpolitische Verhalten von Donald Trump in diese geostrategische Gemengelage? Folgt seine Sprunghaftigkeit strategischem Kalkül? Sind dabei Kriegslisten im Spiel? Oder ist sein Verhalten einfach nur chaotisch, und zwar so chaotisch, dass der paranoide Geostrategiker in jeder Dummheit eine Kriegslist vermutet?

Geostrategie braucht einen verborgenen Plan, der trotz aller Kriegslisten unverändert bleibt. Gilt für Trump noch die Brzezinski-Doktrin? Ist die Forderung „America first“ kombiniert mit dem angekündigten Rückzug aus multilateralen Verträgen, aus der Nato und aus vielen Militärstützpunkten rund um die „Weltinsel“ eine Verabschiedung von der Brzezinski-Doktrin? Oder gilt die Brzezinski-Doktrin weiterhin und das Gerede von Rückzug ist nur eine Kriegslist, hinter der sich unverändert die Brzezinski-Doktrin verbirgt? Oder ist das Festhalten an der Brzezinski-Doktrin auch nur eine Kriegslist, hinter der sich eine völlig neue Geopolitik versteckt?

Zum Jahreswechsel 2017/18 hat Kim Jong-un seinem Nachbarn Südkorea alles Gute für die Olympischen Winterspiele gewünscht. Die Südkoreaner haben sich darüber gefreut. Hier handelt es sich - in Brzezinski-Sprache ausgedrückt - um die Andeutung eines Verstoßes gegen die Regel: „Es muss dafür gesorgt werden, dass die „Barbaren“ sich nicht miteinander verbünden!“

Eine Anmerkung zu einem schockierenden Detail in Brzezinskis geostrategischer Doktrin: Er verlangt, die „Vasallen“ dürften sich nicht untereinander verbünden. In dieser Forderung ist das alte Sprichwort „divide et impera!“ zu erkennen. Mit dem imperialen Dividieren haben auch die Russen seit einiger Zeit begonnen, denn sie unterstützen in den Staaten der EU die nationalistischen politischen Kräfte, die den Austritt aus der EU propagieren. Es ist zu befürchten, das auch dieses Divide-Verhalten die Vorbereitung von geplanter Herrschaft ist.

Das würde aus russischer Sicht gut in die Zeit passen. Denn das Vasallensystem der Wachstumswirtschaft unter amerikanischer Hegemonie beginnt, sich aufzulösen. Der Leitwährungseffekt des Dollar tritt in eine Destabilisierungsphase ein. Vor allem die chinesische Nationalwährung schwächt seine Vormachtstellung.

Deutschland ist durch die NATO in das amerikanische Vasallensystem eingebunden. Auch hier sind Destabilisierungssymptome zu beobachten.

Nichts hat die völlige Auflösung der Decorum-Kultur so deutlich gemacht wie die sechzehnjährige Kanzlerschaft von Angela Merkel. Ihr politisches Rezept war die asymmetrische Demobilisierung. Jetzt nach der letzten Bundestagswahl und nach dem desaströsen Scheitern der CDU wird erkennbar, dass die Erfolg garantierende Wahlstrategie der asymmetrischen Demobilisierung in Wirklichkeit eine Droge war, die die Kräfte auszehrt und menschliche Wracks zurücklässt.

Im Jahr 2016 schrieb ich über dieses Thema einen antizipatorischen Essay für die Neue Zürcher Zeitung. Dieser Essay hatte einen außergewöhnlichen Erfolg, was man mithilfe der Zahl der Leserrückmeldungen gemessen hatte. Ich hatte diesen Essay, der somit nicht ganz schlecht gewesen sein kann, vorher der Frankfurter Allgemeine Zeitung angeboten. Dort wurde er abgelehnt, was erkennen lässt, dass ein wichtiger Repräsentant der deutschen Öffentlichkeit dieses Thema nicht wahrhaben wollte. Für den bei der FAZ verantwortlichen Redakteur, Edo Reents, war ich kein Unbekannter. Er hatte mich bereits früher um einen Beitrag gebeten und den Beitrag auch bekommen.

Den Begriff „Asymmetrische Demobilisierung“ hatte ich nicht selbst erfunden. Er existierte bereits in der politologischen Literatur und war, meines Wissens, zum ersten Mal bei der Analyse eines Wahlkampfs in Südamerika benutzt worden. So viel ich weiß, ist er durch meinen NZZ-Essay erstmalig in einer größeren Tageszeitung mit der Merkel-Regierung in Zusammenhang gebracht worden.

Die Botschaft meines NZZ-Artikels lautete folgendermaßen: Das Prinzip der asymmetrischen Demobilisierung verlangt, dass die regierende Partei, mit anderen Worten die CDU, im Wahlkampf nicht für die eigenen politischen Ziele werben darf, weil dadurch im Gegenzug die konkurrierenden Parteien veranlasst würden, für ihre eigenen Ziele zu kämpfen, um dadurch ihre Wähler zu mobilisieren. Verhält sich die eigene, regierende Partei dagegen ruhig, schläfert das die Gegenseite gewissermaßen ein, und viele der potentiellen gegnerischen Wähler gehen nicht zur Wahl, weil es keine starken politischen Interessen zu geben scheint. D.h.: die Anhänger der regierenden CDU sollen zur Wahl gehen, weil ihnen ja an der Fortsetzung ihrer Interessenpolitik gelegen ist. Die Gegner sollen nicht zur Wahl gehen.

Diese Strategie hat bis zum Wahlkampf von Armin Laschet bestens funktioniert. Danach war die CDU ausgelaugt und kaputt. Inzwischen glaubt sie selbst nicht mehr daran, dass es politische Ziele überhaupt gibt.

Ich habe 2016 geschrieben, diese Taktik nütze den Politikern und zerstöre die Politik, und sie veranlasse die Politiker, eine pharisäerhafte Gesinnungspolitik statt einer verantwortungsvollen Realpolitik zu betreiben. Dafür sei der unrealistische Humanitarismus einer unbegrenzten Aufnahme von Flüchtlingen, die damals das große Problem war, typisch, – von Flüchtlingen, die man in die eigenen Sozialsysteme aufnehmen wollte ohne die Frage zu stellen, ob diese Flüchtlinge im eigenen Staat jemals enkulturierbar sein würden.

Betrachtet man die Merkel-Ära vor dem Hintergrund der Brzezinski-Doktrin, stellt man fest, dass sie die perfekte Innenausstattung eines Vasallenstaats der sogenannten „einzigen Weltmacht“ darstellt: Es herrscht die vollkommene Abwesenheit von Politik, von eigenständigem geostrategischem Denken und von decorum mit seinem Embodiment-Gespür für Staatssouveränität. Die Merkel-Ära kannte kein decorum. Sie kannte nur Wirtschaftswachstum und – Walther Funk und John Maynard Keynes lassen grüßen – sie kannte nur Außenhandelsüberschüsse zum Leidwesen der anderen europäischen Staaten.

Es gibt noch einen Nebeneffekt der Asymmetrischen Demobilisierung: Der politische Diskurs wird durch Versprechen und Gefälligkeiten ersetzt. Die Gefälligkeiten sollen die Annehmlichkeiten der Bürger vergrößern. Auf diese Weise entsteht eine Politik des Hedonismus. Das geht so weit, dass man von einer Herrschaft des Hedonismus sprechen kann, von einer „Hedonokratie“. Hedonokratie ist besonders gefährlich in Zeiten des nationalen Notstands, zum Beispiel in Zeiten des Seuchennotstands. Dann entwickeln sich bei den Bürgern, die das Ernstfallpotential der Politik verdrängt haben, neurotische Konflikte, die möglicherweise in Ereignisketten eskalieren, die von Randale und Straßenschlachten bis zum Bürgerkrieg führen. Einen Vorgeschmack bilden die Straßenschlachten, die zur Zeit in ganz Europa immer dann aufflammen, wenn Quarantänemaßnahmen zur Seuchenbekämpfung angekündigt werden.

Doch wo bleibt in all diesen Überlegungen die versprochene Darstellung des Regelkreises, der sich aus Wachstumswirtschaft, Klimazerstörung, Artensterben, Pandemie und Rückwirkung der Pandemie auf die Wachstumswirtschaft zusammensetzt?

Wirtschaftswachstum kann nicht umweltneutral sein. Solange es Wirtschaftswachstum gibt, werden immer mehr und immer größere Teile der Umwelt ausgebeutet, entfremdet und in entropische Emissionsherde umgewandelt, so dass die Katastrophenentwicklung des Klimas unumkehrbar voranschreitet. Doch was tun? Wir befinden uns seit dem Zweiten Weltkrieg unentrinnbar in einer Wirtschaftsdynamik, deren Wachstum auf eine Weise selbstverstärkend wirkt, dass es von rationalen Einflüssen nicht mehr gebremst werden kann. Wirtschaftswachstum ist zu einem globalen Phänomen geworden. Es ist auch, wie könnte es anders sein, die Doktrin der G20-Staaten. Man kann inzwischen das Wirtschaftswachstum nicht mehr verlangsamen, geschweige denn abschalten, ohne eine globale Katastrophe auszulösen.

Doch dieses Wirtschaftswachstum, das die exogene Ursache der großen Klimakrise ist, und ohne das nichts mehr geht, enthält, für sich allein betrachtet, seinen eigenen wirtschaftsendogenen Krisenherd. Man nennt ihn „Blasenwirtschaft“. Das bedeutet, um in der metaphorischen Sprache zu bleiben: Es entwickeln sich „Kreditblasen“, die platzen. „Platzen“ bedeutet: die Mengen von nicht gedeckten Krediten werden so groß, dass man nicht mehr so tun kann, als gäbe es sie nicht. Das führt dazu, dass die Rückzahlung der Kredite gefordert wird, mit dem Erfolg, dass die Schuldner sich als zahlungsunfähig erweisen. In der Banksprache nennt man das dann: „Kreditereignis“.

Genau das ist während der Finanzkrise von 2007/08 passiert. Das Epizentrum dieser Explosionsdynamik waren die Immobilienkredite der USA. Das akute Katastrophenereignis fand in der Lehman-Brothers-Bank statt, einer amerikanischen Bank, der die amerikanische Zentralbank zu einem bestimmten, genau kalkulierten Zeitpunkt die Allokation von Stützkrediten verweigerte. Man sagt, diese Bank sei als Schauplatz für das Platzen der Blase mit Bedacht ausgewählt worden, weil bei ihr der Anteil von nicht amerikanischen Kunden am größten gewesen sei, und weil man habe erwarten können, dass diese Kunden durch die Bankpleite in den Ruin gezogen würden.

Bei den verlorenen Krediten habe es sich um „toxische“ Kredite gehandelt. Damit sind so genannte „Verbriefungen“, mit anderen Worten Bündelungen von Einzelkrediten mit verschieden hohen Ausfallrisiken gemeint. In der Verbriefung werden die verschiedenen Einzelkredite zu einem einzigen Bündel verschnürt. Die verschiedenen Risiken werden interpoliert. Damit werden auch die nach Einzelrisiko verschieden hohen Zinsen zu einem einzigen Zinspreis interpoliert, und es entsteht ein banktechnisches Produktpaket, von dem man sehr bald nicht mehr weiß, was in dem Paket drin ist.

Das eigentliche „Gift“ in diesen „toxischen“ Systemen wird erzeugt durch den Umstand, dass es Versicherungen gegen die Kreditausfälle gibt, dass diese Versicherungen ebenfalls in den Verbriefungen neben den Krediten gehandelt werden, und dass man schließlich im Dschungel des Verbriefungshandels Kreditversicherungen nicht mehr von Krediten unterscheiden kann.

So sieht der innerste Kern der Wachstumswirtschaft aus. Es ist das instabile Finanzsystem und es ist die schleichende Fortdauer der Finanzkrise von 2007/08, die an dieses Finanzsystem schicksalhaft gekoppelt ist, und von der allgemeinen geglaubt wird, sie bilde seit einiger Zeit einen ständigen Begleiter des Weltgeschehens.

Wachstumswirtschaft plus „toxisches“ Finanzsystem bilden die erste Takteinheit des Regelkreises, dessen Analyse ich oben angekündigt habe, des Regelkreises Wachstumswirtschaft /Klimakatastrophe / Artensterben / Pandemie / Rückwirkung der Pandemie auf die Wachstumswirtschaft.

Die Umweltkrise und mit ihr die Klimakrise sind Funktionen der Wachstumswirtschaft, und die Wachstumswirtschaft enthält die intrinsische Droge „toxische Blasenwirtschaft“. „Eine Funktion der Wachstumswirtschaft sein“ bedeutet: das Letztere ist vom Ersteren funktional abhängig. Denn solange die Wirtschaft wachsen muss, müssen die Produktionen steigen, was bewirkt, dass immer mehr Energie verbraucht wird. Der schlimmste Kolalateraleffekt des Energieverbrauchs ist die Erzeugung von Entropie. Das ist der unvermeidliche Wärmeverlust, der bei jeder Energienutzung in die Umwelt entweicht. „Entropie“ bedeutet auch: „Wärmetod des Universums“. Der Entropieeffekt wird erklärt durch das zweite thermodynamische Gesetz. Es ist das Erhaltungsgesetz des Energieflusses. Nicht alle Energie kann in die Arbeitsleistung umgesetzt werden, die in der Industrieproduktion angestrebt wird. Ein Teil entweicht ungenutzt in die Umwelt. Dieser energetische Verlust wird begleitet von unkontrollierten Schadstoffemissionen. Dazu gehört die Emission von CO2-Gas. Das CO2-Gas sammelt sich in der Atmosphäre.

Dieser Dissipationsprozess geht Hand in Hand mit der stetigen Ausweitung der industriell genutzten Territorien und der stetigen Verkleinerung der Wildnis. „Wildnis“, das sind die Lebensräume der wild lebenden Pflanzen und Tiere.

Die Summe der Emissionseffekte erwärmt das Klima der Erde. Das ist inzwischen schon bei unseren Kindern zum Standardwissen geworden. Diese Einsichten haben sich gewissermaßen trivialisiert.

Die Erwärmung des Klimas verändert die Ökosysteme. Einige verschwinden ganz, andere erwärmen sich. Das bewirkt den Zwang zur Neuanpassung aller Lebewesen. Bei dieser Neuanpassung gibt es Gewinner und Verlierer. Die Gewinner sind die sogenannten „Generalisten“. Sie können in verschiedenen Umwelten überleben und verschiedene Nahrungsquellen nutzen. Ihnen fällt der Wechsel in eine wärmere Umwelt nicht schwer. Die Verlierer können das nicht. Das hat zur Folge dass diese „Verlierer“ aussterben. Das wiederum hat zur Folge, dass die Gesamtzahl der Tier- und Pflanzenarten kleiner wird, und das ist der quantitative Effekt des sogenannten Artensterbens. Anders ausgedrückt: Es ist der Verlust von Biodiversität.

Auf eine Kurzformel gebracht: Die Zahl der Arten wird kleiner und die Populationen innerhalb der weniger gewordenen Arten werden größer, weil die Räume der für sie verfügbaren Ökosysteme wegen des Aussterben der Verliererarten größer werden, und weil damit auch die Menge der für die Gewinner verfügbaren Nahrungsressourcen größer wird.

Die Verringerung der Artenvielfalt hat bedrohliche Konsequenzen, auch für die Nahrungsversorgung der Menschen. Das erzeugt Ängste. Diese Ängste richten sich auf die Ursache des befürchteten Artensterbens: die Klimaerwärmung.

Direkte Auswirkungen auf die Nahrungs- und Wasserversorgung, ohne den intermediären Einfluss des Artensterbens, hat auch die Erwärmung selbst. Denn die Erwärmung, für sich allein genommen, bewirkt das Ansteigen der Meeresspiegel. Dadurch werden viele der bisherigen Siedlungsgebiete unbewohnbar. All das ist hinreichend bekannt.

Doch wo erscheint in diesen Erörterungen der Link zu dem dritten Glied in der Reaktionskette, von der ich behauptete, sie habe die Eigenschaften eines Regelkreises? Wie rechtfertigt sich die These vom Funktionseinfluss der Klimaerwärmung auf die Seuchenentwicklung?

Große Wirtspopulationen und geringe Artenvielfalt sind ein besserer Entfaltungsraum für die Evolution und die Mutationshäufigkeit von Viren als kleine Populationen und große Artenvielfalt. Denn in kleinen Populationen erreichen die Viren schneller die Durchseuchung. Dann müssen sie, um sich weiterhin zu vermehren und um weiterhin funktionsfähig zu bleiben, öfter von einer Art auf eine andere springen. Um das zu erreichen, müssen sie vorher erfolgreich mutiert sein, d.h. Sie müssen viele Trial-and Error-Anläufe unternommen haben, um schließlich eine erfolgreiche Zoonose zustande zu bringen. Denn „Zoonose“ nennt man das Eindringen von Viren in eine neue zoologische Art von Wirtsorganismen. Zoonosen kosten Zeit und Energie.

Die Kausalkette wird erkennbar: die Wachstumswirtschaft erzwingt eine Ausbreitung in immer größere Umweltbereiche und verkleinert permanent die ökologischen Erholungsräume der Natur. Sie frisst, bildlich gesprochen, immer mehr Natur auf und transformiert diese „gefressene“ Natur in entropische Schadstoffemissionen, die das Klima erwärmen.

Der Wachstumszwang der Wirtschaft wird verstärkt durch ihre intrinsische Selbstvernichtung, die aus der Hypertrophie resultiert, die zur Blasenbildung der Finanzsysteme führt. Sie ist damit permanent gezwungen, zerstörtes wiederaufzubauen. Auch das verzehrt Ressourcen und erzeugt Verluste von Ressourcen.

Die Wachstumswirtschaft erzeugt die Klimazerstörung. Das ist der erste Schritt.

Der zweite Schritt: Die Klimazerstörung erzeugt die Verringerung der Artenzahl und die Vergrößerung der Artenpopulationen.

Daraus resultiert im dritten Schritt eine Beschleunigung der Virus-Evolution. Die wiederum geht einher mit der verstärkten Ausbreitung von Seuchen in den Menschenkulturen.

Der vierte Schritt und damit die Rückkehr zum Anfang, alias die Bildung eines Hyperzyklus, sieht folgendermaßen aus:

Die Ausbreitung von Seuchen bei den Menschen verlangsamt das Wirtschaftswachstum. Ist Verlangsamung von Wirtschaftswachstum nach allem, was hier erörtert wurde, ein heilsamer oder ein schädlicher Effekt?

Die globale Ausbreitung der Virusvarianten von SARS CoV2 hat gezeigt, dass die globalen Lieferketten ins Stocken gerieten, dass außerdem das Konsumverhalten um ca. 30 % verringert wurde, wegen der Ausgangsbeschränkungen durch Quarantänemaßnahmen, und dass noch zahlreiche andere Dämpfungseffekte entstanden, durch die Wirtschaftsaktivität eingeschränkt wurde.

Der Regelkreis der Polykrise FCE (finance-climate-epedemic) sieht in der Kurzformel folgendermaßen aus: F verstärkt C; C verstärkt E; E dämpft F; gedämpftes F verstärkt C weniger als vorher; weniger verstärktes C verstärkt E weniger als vorher; weniger verstärktes E dämpft F weniger als im ersten Umlauf.

Wenn die Selbstregulationskräfte dieses Hyperzyklus tatsächlich greifen, dann wird das Resultat möglicherweise so aussehen:

Ich gehe von der Annahme aus, dass ein Regelkreis, sobald er einmal da ist – oder systemtheoretisch ausgedrückt: sobald er sich als emergent erweist – nur noch als ganzer beeinflusst werden kann. Denn ein Regelkreis ist eine Selbststabilisierungsmaschine. Bei einem Beeinflussungsversuch muss eine Stelle im Funktionsablauf des Regelkreises gefunden werden, an der man einen Regulator anbringen kann.

Beispiele für kybernetische Regulatoren in der menschlichen Technikgeschichte sind der Thermostat bei der Steuerung von Heizsystemen, und der Zentrifugalregulator bei der Steuerung der Drehgeschwindigkeit von Dampfmaschinen. Zentrifugalregulatoren wurden auch „James-Wattsche-Flying-Balls“ genannt. Regulatoren dieses Typs nutzen einen Teil der Arbeit der zu regulierenden Maschine, um dadurch eine Dämpfungskraft auszulösen, die verhindert, dass die Arbeit der Maschine zu intensiv wird, und dass sich dadurch die Maschine selbst zerstört. Die Dampfmaschine würde sich selbst zerstören, wenn eine unbegrenzt beschleunigte Bewegung des Antriebsrades bewirken würde, dass die Lagerungen der sich drehenden Räder überhitzt würden, die Lager sich festfräßen, die Räder blockierten. Dann würde die Dampfmaschine explodieren, weil der Stau des entstehenden Kesselüberdrucks nicht abgeführt werden könnte. Der Kessel würde gesprengt.

Die Dampfmaschine ist ein künstlicher Motor. In der Natur gibt es wilde Motoren, zum Beispiel Strömungswirbel und Tornados. In der Perspektive dieser Klassifizierung würde der Regelkreis der verschränkten Krisen zu den wilden Motoren gehören, die ihre eigene Dämpfungskraft hervorbringen und sich damit selbst regulieren.

Bei den verschränkten Krisen wird der Regulationseffekt durch die Rückwirkung der Pandemie auf das Wirtschaftswachstum erzeugt. Dabei ist die Pandemie eine letzte Folge der Funktionsschritte „Wirtschaftswachstum“, „Klimazerstörung“, „Artensterben“, „Virusevolution“. Die negative Einwirkung der durch die Virus-Evolution erzeugten Pandemie auf das Wirtschaftswachstum ist somit die sensible Stelle des wilden Motors „Krisenverschränkung“. Hier müsste die menschliche Beeinflussungspolitik ansetzen.

Das hätte folgende Konsequenzen: Man kann keinen Einzelbereich der Krisenverschränkung beeinflussen. Man kann nur das Ganze beeinflussen. D.h.: man kann nicht die Klimaentwicklung für sich allein beeinflussen. Denn das Wirtschaftswachstum ist nicht zu bremsen, und Wirtschaftswachstum wird immer die Klimakatastrophe vorantreiben.

Die politische Einflussnahme muss somit die Pandemie nutzen, um das Wirtschaftswachstum zu dämpfen. Daraus folgt, dass die Menschen ihr kulturelles Verhalten so verändern müssen, dass die Pandemie weiterexistieren kann, dass es immer partielle Quarantäneblockierungen gibt, damit auch die Pandemie durch negative Feedbackkräfte stabilisiert wird und in gedämpfter Form einen stetigen Dämpfungseinfluss auf das Wirtschaftswachstum ausüben kann.

Der Dämpfungseinfluss würde in der Kultur generiert, weil sie an die Pandemie angepasst wäre. Auf diese Weise würde das Krisenverschränkungssystem als ganzes verlangsamt. Das würde bedeuten: Auch die Degenerationsentwicklungen des Klimas und das Artensterben würden sich verlangsamen.

Die Kultur wäre somit Regulator und gleichzeitig Ablesearmatur einer Dynamik, die Einsicht in den jeweiligen inneren Zustand des globalen wilden Motors „Krisenverschränkung“ gewähren würde. Das asketische Gespür, dass die Menschen dabei zwangsläufig entwickeln würden, wäre das Bauchgefühl eines neuen kulturellen decorum. Es wäre das Bauchgefühl für das, was angemessen ist.

Dieses neue decorum würde eine Balance zwischen Indikationsverhalten und Präferenzverhalten erzeugen (siehe oben, Stichwort „Influencerökonomie“). Der neue Indikationseinfluss wäre der leichte Dauerstress, der von einer stets gegenwärtigen Pandemie erzeugt würde. Das ökonomische Präferenzverhalten wäre das von der neuen Indikation dominierte Entspannungsverhalten.

Influencer würden nur Verwirrung stiften. Denn Influencer sind nur da erforderlich, wo es kein decorum gibt. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass man als erstes die Influencer abschaffen muss, wenn man darauf hoffen will, dass sich ein dringend benötigtes neues Decorum-Gespür in der Welt ausbreitet?

Dritter Teil: Der erste Gegenkrieg und Pandemie als Waffe

Kriegsbeute erweckt Neid. Das tut sie auch noch, nachdem fast ein Jahrhundert vergangen ist.

Das Resultat der Kriegsbeute des Zweiten Weltkriegs ist das System der US-amerikanischen Hegemonie, bestehend aus Leitwährung, Kreditsystem, Allokation der amerikanischen Digitaltechnologie, des amerikanischen Wissenschaftssystems und der Omnipräsenz der amerikanischen Waffen.

Welche geopolitische Macht bildet den stärksten Konterpart zur Welthegemonie, die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen ist? Jeder weiß es!

Wir haben jetzt, im Sommer 2022, einen Krieg, mit dem ich genau so wenig gerechnet hätte, wie mit der Pandemie, die jetzt im dritten Jahr die Welt verändert. Ich dachte zu Anfang des Krieges, alles werde schnell vorübergehen, und Russland werde nur die Regionen um Donezk und Luhansk annektieren. Doch die Russen marschierten auch in Richtung Kiew. Es kam zu einem Krieg, für den die alte strategische Sprichwortweisheit gilt: „Einen Krieg beginnen ist ganz leicht, aber einen Krieg beenden ist unendlich schwierig.“

Das Hegemoniesystem der Post-Weltkrieg-Ära – gemeint sind die USA und die Nato - bekämpft den Aggressor Russland mit Sanktionen, die wehtun. Sie tun Russland weh, aber sie tun auch den USA und Europa weh.

Wenn man versucht, den Ukraine-Krieg strategisch zu verstehen, und zwar aus der Sicht Russlands, dann ergeben sich zwei potentielle Kriegsresultate, die für Russland vorteilhaft wären. Erstens: die Sicherung des Landweges vom russischen Territorium zur Krim-Halbinsel und zu den Schwarzmeer-Häfen.

Zweitens: das mögliche Zusammenbrechen der Sanktionsfront in Deutschland und in der EU, – ein Zusammenbrechen, das durch die Einstellung der russischen Gaslieferungen verursacht würde. Die russische Seite hofft dabei auf die zunehmende Zermürbung in der Bevölkerung. Die Russen vermuten, dass die Menschen sich davor fürchten, im nächsten Winter zu frieren, und dass die Menschen sich ebenfalls davor fürchten, die Lebenskosten könnten unbezahlbar teuer werden.

Wenn dieses Umschlagen der Stimmung zu einer Aufhebung der Sanktionen und schließlich dazu führen würde, dass die EU einem von Russland diktierten Frieden in der Ukraine zustimmt, dann würde eine derartige Entwicklung ebenfalls zu einer stärkeren Anbindung Europas an den eurasischen Kontinent führen. Sie würde eine partielle Loslösung von der atlantischen Orientierung bewirken. Europa wäre dann gezwungen, Bündnissen mit östlichen Nachbarn zu vertrauen. Mit anderen Worten: Europa würde asiatischer und die zwischenstaatlichen Strukturen auf dem eurasischen Kontinent würden sich verändern.

Für jeden Krieg gibt es Mobilisierungskosten. Diese Kosten verringern sich, wenn es in den kriegführenden Parteien Narrative gibt, an die die Menschen glauben, und in denen die Feinde als verachtenswert dargestellt werden. Eines dieser Narrative scheint die sakralrechtliche Weltsicht der russisch-orthodoxen Kirche zu sein. In dieser Weltsicht wird der Westen als böse und sündhaft dargestellt.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die russisch-orthodoxe Kirche rehabilitiert worden. Sie versteht sich als Staatskirche. Darin unterscheidet sie sich von den christlichen Kirchen des Westens, die sich dem Prinzip „Trennung von Kirche und Staat“ untergeordnet haben. Die russische Orthodoxie sieht sich als die Kirche des „Dritten Rom“, nachdem das erste Rom seine Macht an Byzanz verlor und Byzanz von den Türken erobert und in „Istanbul“ umbenannt wurde.

Die russische Orthodoxie unterscheidet sich von der ukrainisch orthodoxen Kirche, in der das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat mehr respektiert wird. Die Trennung von Kirche und Staat wurde 1991 in die ukrainische Verfassung aufgenommen.

Die ideologische Verbindung von russischer Orthodoxie und russischem Nationalismus ist auch vor dem Horizont der kulturellen Langzeitevolution von Interesse. Für kulturelle Evolution ist die Übertragung der Regelsysteme von zentraler Bedeutung. Zu den wichtigsten Regelsystemen gehören die Gesetzeswerke. Bei der Transmission der europäischen Rechtssysteme bildet das römische Recht den Ausgangspunkt.

Die Transmitter des römischen Rechts sowohl für den östlichen als auch für den westlichen Einflussbereich waren der byzantinische Kaiser Justinian und seine Rechtsgelehrten. In ihrer Zeit entstand das „corpus iuris Iustiniani“. Dieses Rechtswerk diente auch im westlichen Europa während des Mittelalters und der frühen Neuzeit als Rechtsgrundlage. Es wurde vom Vatikan durchgesetzt und zwar mit dem Legitimationsanspruch, es müsse sich um göttliches Recht handeln, denn die alleinige Quelle allen Rechts sei Gott. Die Assimilationsarbeit der justinianischen Redaktion des römischen Rechts hatte aus der Anpassung an die christliche Theologie bestanden.

Dieser sakralrechtliche Anspruch des Justinianischen Rechts stieß auf den Widerspruch der italienischen Humanisten. Sie hatten durch Quellenstudium herausgefunden, dass Justinians Recht eine verderbte Variante des original römischen Rechts war, dass das originale römische Recht dem Justinianischen Recht an Systematik überlegen war, und dass somit das heidnische römische Recht gerechter war als das angeblich göttliche Recht des byzantinischen Kaisers Justinian.

Dieses relativierende Verhalten der italienischen Humanisten erfüllte die Sachverhalte der kulturellen Kränkung und des intrakulturellen Kulturrelativismus.

Eine kulturelle Kränkung war zum Beispiel die Erkenntnis, dass die Erde nicht das Zentrum des Universums ist sondern sich um die Sonne dreht. Kulturelle Kränkungen waren die Darwinsche Evolutionstheorie, die Ersetzung der Seelentheologie durch die Freudsche Psychoanalyse, und viele andere naturwissenschaftliche Entdeckungen.

Die kulturelle Erfahrung, die aus dem Vergleich des Justinianischen Rechts mit dem heidnisch- Römischen Recht resultiert, löst nicht nur die Empfindung der kulturellen Kränkung aus. Sie ist auch antiuniversalistisch, weil sie den jeweiligen kulturspezifischen Charakter des Rechts erkennt.

Die Revision des Römischen Rechts durch die italienischen Humanisten bildet den Initiationsimpuls für die Weiterentwicklung der europäischen kulturellen Regelsysteme, – zum Beispiel in der Zeit der Souveränitätstheorie des späten 16. Jahrhunderts, in der Aufklärung, in der französischen Revolution und im Prinzip der Trennung von Kirche und Staat, das ein Resultat der französischen Revolution ist.

Eine derartige Entwicklung hat im byzantinisch-russischen Zweig der poströmischen Kulturevolution nie stattgefunden. In diesem Dilemma zwischen beiden Kulturzweigen befindet sich die heutige Ukraine.

Das Argument, der Westen sei gottlos, ist virulent in der jetzigen russischen Kriegspropaganda. Dieses Argument hat die Funktion eines Kulturstrategems. Es dient dem strategischen Interesse der „Hauptakteure“ des eurasischen Kontinents.

Jetzt, im Sommer 2022, wird in der Ukraine ein Krieg geführt, dessen strategischen Ziele (Zugang zu den Schwarzmeerhäfen und Kräfteverschiebung auf dem eurasischen Kontinent) unseren Blick vom Kriegsschauplatz Ukraine auf den ganzen Kontinent lenken. Wenn ich bei dieser Ausweitung des Beobachtungsfeldes nach einem Epizentrum des strategischen Gesamtkontextes suche, - und wenn ich dann mein Augenmerk nicht auf Moskau sondern auf Peking richte, dann erkenne ich in zunehmendem Maße ein strategisches Gesamtkonzept. Dann fungiert nämlich der Ukraine-Krieg als Stellvertreterkrieg aller eurasischen Staaten, der den Staat der Dollar-Leitwährung schwächen soll. Er soll ihn schwächen durch die Angriffe des Kombikrieges, der aus den Komponenten „Wirtschaftskrieg“ und „Militärkrieg“ besteht.

Über welche, wie Edward Lutwak sagen würde, militärische und ökonomische „Feuerkraft“ verfügt China?

Erstens: Es gibt einen Stellvertreterkrieg, der militärische und ökonomische Ressourcen (Kosten der Sanktionen) sowohl bei den westlichen Alliierten als auch bei Russland verschlingt. Es kommt zu Energieengpässen durch die Verringerung der russischen Gaslieferungen, und, dadurch bedingt, zu allgemeinen Verteuerungen. Es kommt zu Hilfszuweisungen für benachteiligte Bürger aus Steuermitteln. Es kommt zu einer Schwächung der öffentlichen Finanzen und zu Geldknappheit bei der staatlichen Finanzierung des Gesundheitswesens (kostenlose Coronatests etc.). Und es kommt zu einer Verschärfung der Inflation. Diese Finanzierungsschwierigkeiten verkleinern auch die Handlungsspielräume bei der Bekämpfung der Covid19-Pandemie.

Dieser Stellvertreterkrieg wird in Mittel- bzw. Osteuropa geführt. Mittel- und Osteuropa werden in der Brzezinski-Doktrin „Herzland“ der „Weltinsel“ genannt. Wenn wir also nach wie vor die Brzezinski-Doktrin als Modell des geostrategischen Verhaltens der USA betrachten, dann können wir nicht übersehen, dass in dieser Doktrin die Ukraine „Katalysator“ genannt wird. Weitere Katalysatoren sind laut Brzezinski: Aserbaidschan, Iran, die Türkei und Südkorea. Die Ukraine müsste in dieser Sicht die Funktion des wichtigsten aller Katalysatoren haben, weil sie im „Herzland“ liegt. Die Ukraine fungiert außerdem in der Brzezinski-Doktrin als hochgradig instabiler „Katalysator“ bzw. als „Dreh- und Angelpunkt“.

Zweitens: China verfügt über eine auf der Welt einzigartige Null-Covid-Kontrolle der Covid19-Pandemie. Das ist zumindest der status quo bis zum Sommer 2022. Die Asymmetrie dieser Situation wird verschärft durch die wirtschaftliche Krise, die durch Energieverknappung und sanktionsbedingte Umsatzeinbußen verursacht wird. Das Resultat: China gelingt es, Covid19 durch 0-Covid-Maßnahmen klein zu halten. Die westlichen demokratischen Staaten dagegen werden von Corona überrollt. Auf diese Weise entsteht eine Asymmetrie, die strategische Folgen hat: Der Rest der Welt, außerhalb von China, hat gegenüber der Pandemie resigniert. Man läßt der Covid19-Entwicklung inzwischen freien Lauf. Die Impfungen haben nach den ersten Virus-Mutationen nicht mehr ihre Effizienz von ca. 94 % erreicht. Dieser – aus chinesischer Sicht – Rest der Welt wird wirtschaftliche Einschränkungen hinnehmen müssen. Es drohen Inflationen, die damit verbundenen Preiserhöhungen und Angebotsverknappungen. Kurz: es droht das, was die Ökonomen „Angebotsschock“ nennen.

Es droht ferner ein Nachfrageschock, der aus geringerer Mobilität resultiert und aus der verringerten Bereitschaft, Orte mit Publikumsverkehr aufzusuchen.

Drittens: China verfügt über die größten Dollarreserven der Welt (außerhalb der USA selbst). China könnte die Finanzmärkte mit Dollar fluten und auf diese Weise den Dollarwert destabilisieren.

Viertens: es ist eine unbewiesene Hypothese, dass es so etwas gebe wie die Aufmerksamkeitsökonomie einer Bevölkerung. In dieser Aufmerksamkeitsökonomie sei die Gesamtmenge des Aufmerksamkeitspotentials begrenzt. Deshalb könne jeder einzelne der Bedrohung durch eine Seuche nicht mehr die eigentlich erforderliche Aufmerksamkeit entgegenbringen, sobald es die Ablenkung durch einen Kriegsausbruch gebe. Das müsste die westlichen Bevölkerungen gegenüber Corona nachlässig machen. Auch dieser Effekt könnte in das strategische Kalkül der chinesischen Regierung einbezogen werden, wenn es um die Einschätzung der asymmetrischen Seuchenauswirkung in China und im Westen geht. Denn es ist anzunehmen, dass die chinesische Regierung mit ihren unbequemen und kostspieligen 0-Covid-Maßnahmen das mittel- und langfristige Ziel verfolgt, der Durchschnittsgesundheit der eigenen Bevölkerung im Verhältnis zum Rest der Welt einen Vorteil zu verschaffen. Die Durchschnittsgesundheit der nicht-chinesischen Weltbevölkerung könnte zum Beispiel durch Long-Covid-Krankheiten beeinträchtigt werden.

Eine der befürchteten LongCovid-Auswirkungen besteht aus der viralen Schädigung der Gehirne und der damit verbundenen Senkung der IQ-Potentiale. Es wird von einer Beeinträchtigung gesprochen, die 10% der Infizierten betrifft, und die bis zu sieben bzw. acht IQ-Punkte betragen könnte. Das wäre eine immense Schädigung. Man stelle sich vor, ein asymmetrischer Befall von LongCovid, der den Westen mehr träfe als China, würde zu einer langsamen Verdummung der westlichen Bevölkerung führen. Eine derartige Entwicklung hätte eine gewisse Logik: Zuerst hindert der Druck des Hedonismus die Entscheidungsträger daran, asketische Gegenmaßnahmen gegen SARS CoV2 durchzusetzen. Dann verdummt diese hedonistische Bevölkerung durch SARS CoV2-bedingten IQ-Verlust. Das Resultat wäre ein verdummter Hedonismus, was perfekt funktionieren müsste.

Alles was man über die Antigen-Evolution der SARS-CoV2-Virusfamilie weiß, führt zu der Voraussage, dass man bei zukünftigen Virus-Mutationen keinesfalls damit rechnen kann, eine benigne Weiterentwicklung sei wahrscheinlicher als eine gefährliche Weiterentwicklung, etwa nach dem Motto: „das Virus schont seine Wirtspopulationen, um nicht selbst auszusterben.“ Von Mutationsschritt zu Mutationsschritt können „VOCs“ (variants of concern) entstehen, die sowohl ansteckender als auch gefährlicher sind, und zusätzlich über die Fähigkeit des Immun-Escape, des Umgehens von Immunitätsschutz verfügen, - des sogenannten „hybriden“ Immunitätsschutzes, der aus Impfungen und vorheriger Infektion und Genesung resultiert. Diese Überlegungen lassen es als wahrscheinlich erscheinen, dass die einzigen wirkungsvollen Gegenmaßnahmen gegen diese epochale Pandemie aus der Veränderung des kulturellen Verhaltens bestehen. Mit anderen Worten: sie bestehen aus kulturellen Askeseübungen, die für das IQ-Training ohnehin gut wären. Sie bestehen aus Lockdowns, Grenzschließungen und der Vermeidung von Versammlungen im realen Raum, d.h. sie bestehen aus den Maßnahmen, die zurzeit nur in China umgesetzt werden können.

Wie passen diese Überlegungen zu dem „kybernetischen“ Modell der multiplen Krisenverschränkung? Das Modell der Krisenverschränkung enthält die Eigenschaft der Selbstdämpfung durch Rückkehr zum Anfang. Dieses Modell besteht erstens aus der Leitwährung, zweitens aus durch Superkredite finanziertem Wirtschaftswachstum, drittens aus Klimazerstörung, die Resultat des Wachstums und der sich ständig vergrößernden Wirtschaftsregionen ist, viertens aus dem Artensterben, verursacht durch Klimazerstörung und Erwärmung, fünftens aus der Intensivierung der Virusevolution und schließlich aus dem Rückkehr-zum-Anfang-Effekt: „Dämpfung des Wachstums durch Virus-Seuchen“.

Die Dämpfung der Wachstumswirtschaft trifft China mit seiner 0-Covid-Strategie genauso wie den Westen. Lockdowns behindern die Wirtschaft, und die Ausfälle bei den globalen Lieferketten beeinträchtigen den Westen als Empfänger der Lieferketten genauso wie China als Lieferanten.

China verfügt in dieser Situation über zwei strategische Werkzeuge, die fähig sind, dem Westen zu schaden und China zu stärken. Das erste strategische Potential ist der erste Gegenkrieg, der im Einflussbereich der bisher von den USA umgesetzten Brzezinski-Doktrin ausgebrochen ist. Dieser Krieg ist aus chinesischer Sicht ein „Stellvertreterkrieg“. Gemeint ist der Angriffskrieg, den Russland in der Ukraine führt. Er erschüttert das labile Gleichgewicht auf der „Weltinsel“ und im „Herzland“ der „Weltinsel“. (Siehe Exkurs „Strategisches Zwielicht“, zweiter Teil dieses Essays).

Beim Ukrainekrieg handelt es sich um den ersten militärstrategischen Gegenschlag gegen die Resultate des amerikanischen Sieges im Zweiten Weltkrieg. Das heißt: es handelt sich um den ersten Revancheschlag gegen die Resultate „Bretton Wood“, „Leitwährung“ und „Dominanz der amerikanischen Kreditwirtschaft“. Wenn der Kampf gegen die Dollar-Leitwährung das Hauptziel des Ukraine-Kriegs ist, dann ist es nur folgerichtig, das sowohl Russland als auch China den Rubel oder irgendeine große Währung des eurasischen Kontinents als Zahlungsmittel für Erdgas- und Rohstoffimporte durchsetzen wollen.

Die zweite Gegenkraft besteht aus den ordnungspolitischen Vorteilen des chinesischen Diktatursystems, die eine rigorose Antiseuchenpolitik ermöglichen. Die westlichen Demokratien haben diese Art von Politik nichts entgegenzusetzen. Resultat dieser asymmetrischen Antiseuchenmaßnahmen ist perpetuelles, flächendeckendes Infektionsgeschehen in den demokratischen Staaten konfrontiert mit der Fastnormalität einer relativ größeren Seuchenfreiheit in China. Doch diese „relativ größere Seuchenfreiheit“ ist mit hohen Kosten verbunden. China muss bei der geringsten Virusinzidenz ganze Industrieregionen abriegeln. Es entfallen Produktionen, Einnahmen, Exporte und Lieferungen in internationale Lieferketten. Dadurch wird globales Wirtschaftswachstum gedämpft: im eigenen Land und auf den globalen Märkten.

Das „perpetuelle, flächendeckende Infektionsgeschehen“ macht aus der westlichen Kultur ein natürliches kybernetisches System ohne Außensteuerung, das oszillierenden Zyklen anheimfällt. Es handelt sich um die perpetuellen Kreisläufe von Wirtschaftswachstum – Seuchenverstärkung – Dämpfung des Wachstums – Dämpfung der Seuchenverbreitung – Vergrößerung des Wachstums – Verstärkung der Seuchen – Verstärkung der Dämpfung – Schwächung des Wachstums – Schwächung der Seuchen ... Diesem komplett selbstorganisatorischen Natur-Kultur-Hybridsystem steht der partiell gesteuerte Hyperzyklus des chinesischen Systems gegenüber. Partiell gesteuert ist es, weil in China 0-Covid funktioniert, – wenigstens bis jetzt.

Militärische Schwächung durch Bindung von westlichen militärischen Ressourcen (Ukraine, Taiwan) führt zu einer Störung des Coercion-Extraction-Systems „Dollarleitwährung / Petrodollar / kreditfinanziertes Wachstum“, weil der Coercion-Druck sich abschwächt. Im umgekehrten Verhältnis zur Schwächung des Dollars als Reservewährung werden andere internationale Zahlungssysteme gestärkt, – zum Beispiel der Renminbi und vielleicht auch der Euro, oder vielleicht beide, vielleicht auch der Rubel, wie wir sehen, denn Russland verlangt die Umstellung der Energielieferverträge auf Rubel, und dient damit auch den Wirtschaftskriegszielen Chinas.

Wenn man also das Darstellungsschema „Regelkreis“ nicht verlassen will, dann muss man annehmen, dass die Regelkreisstruktur im chinesischen Einflussbereich anders funktionieren würde. Denn die Dämpfung des Wirtschaftswachstums durch die Seuche käme nicht im selben Umfang zustande, weil ja die Seuche von China besser kontrolliert würde.

Es wären somit auf der Welt zwei konkurrierende, sich selbst erzeugende und einander ähnliche Systeme entstanden. Das westliche entspräche eher einem kybernetischen Zufallsprodukt mit Selbststeuerung. Das chinesische entspräche etwas mehr einer von außen gesteuerten Kybernetik wegen der staatlichen Einflussnahme durch die Null-Covid-Strategie. Beide Systeme wären räumlich voneinander getrennt, weil China wegen seiner Null-Covid-Politik die Grenzen öfter schließen müsste.

Das westliche System würde seine Form behalten, so wie ich sie im zweiten Teil beschrieben habe. Allerdings wäre es verkleinert, weil es nicht mehr global funktionieren könnte wegen der räumlichen Abgrenzung Chinas. Die Seuche bliebe im Westen ein essentieller Dämpfungsfaktor. Das kulturelle Verhalten würde sich verändern. Die wohlhabenden Eliten würden Events im physischen Raum meiden und zur Entstehung von Architekturen beitragen, die social-distancing erleichtern, zum Beispiel nach dem Vorbild der „Closed Loops“, die in chinesischen Fabriken während der Shanghai-Quarantänen erprobt wurden.

In der chinesischen Version würde es mehr durch positives Feedback verstärktes Binnenwirtschaftswachstum geben, außerdem, als Folge des relativ stärkeren Binnenwachstums, relativ mehr Klimazerstörung und Artensterben. Als Folge des Artensterbens würde sich auch die Virusevolution im außermenschlichen Zoonosebereich relativ verstärken und es würde infolgedessen zu Iterationsketten von regionalen Total-Lokdowns kommen.

Diese chinesische Taktik würde die globale Virus-Evolution verstärken, die verstärkt ausschwärmenden Viren aber vom eigenen Territorium fernhalten, weil China ja im eigenen Land eine 0-Covid-Politik umsetzt, für die den demokratischen Staaten das politische Durchsetzungsvermögen fehlt.

Apropos „Feuerkraft“ á la Edward Luttwak: China würde aus der Deckung Viren auf den Rest der Welt abfeuern.

Im Übrigen scheint das chinesische Wirtschaftssystem trotz der Lockdown-Politik sehr robust zu sein. Denn trotz des harten Lockdowns in Shanghai während dieses Sommers hat China im Juli 2022 einen Exportzuwachs von 18% (gegenüber dem Vorjahr) erwirtschaftet.

Diese Asymmetrie der Entwicklung würde China zwingen, die eigene Isolation zu akzeptieren. Dieses Isolationsdenken einer „gelben“ Landkultur, benannt nach dem „gelben Fluss“, die sich von der „blauen“ Kultur der Ozeane unterscheidet, hat in China Tradition.

China, das hypothetische strategische Zentrum der gegenwärtigen Situation „Ukraine-Krieg/Covid19-Kontrolle“ verfügt somit über zwei strategische Hebel. Erstens: der Ukraine-Stellvertreterkrieg; zweitens: das Alleinstellungsmerkmal Zero-Covid.

Eine weitere Hypothese lautet: Der jetzige Ukraine-Krieg folgt nach wie vor der Logik der Brzezinski-Doktrin: Mittel-Osteuropa ist das Herzland. Wer das Herzland beherrscht, beherrscht die Weltinsel „eurasischer Kontinent“. Wer die Weltinsel beherrscht, beherrscht die Welt.

Die Ukraine ist der wichtigste der fünf Katalysatoren Ukraine, Aserbaidschan, Türkei, Südkorea, Iran, weil er im „Herzland“ liegt.

Leichte Veränderungen in einem Katalysator bewirken weitreichende Veränderungen in der Zusammensetzung der Teile des ganzen Systems „Weltinsel“. Die Teile der Weltinsel sind die von Brzezinski so genannten Hauptakteure: China, Indien, Russland, Deutschland, Frankreich.

Chinas strategisches Interesse könnte sich auf einen erhofften „Ruck“ im Katalysator „Ukraine“ richten, einen „Ruck“, der einen „Folgeruck“ in der Zusammensetzung der ganzen Weltinsel auslösen könnte. Das würde der Katalysatorlogik entsprechen und könnte dem Ziel dienen, die Kontrolle über die Weltinsel dem Beherrscher der blauen Kultur (gemeint sind die USA) zu entziehen. Letzteres entspräche den Interessen des größten Hauptakteurs der Weltinsel. Ein derartiger „Ruck“ könnte ausgelöst werden durch ein „zu Kreuze Kriechen“ der EU-Staaten angesichts des Lieferstopps von Erdgas und der Bedrohung durch eine disruptive Energieverknappung.

Am gegenüberliegenden Ende der Weltinsel – von China aus gesehen – liegen die Hauptakteure Deutschland und Frankreich. In der Logik der durch einen Katalysator-Ruck ausgelösten Neuzusammensetzung müsste nach der Verringerung des blauen Einflusses (durch die USA) auch das Verhältnis von Deutschland und Frankreich zur Weltinsel „gelber“, das heißt: kontinentaler und vielleicht auch strategisch eigenständiger werden.

„Deutschland und Frankreich“: das ist heute nur noch ein metonymischer Pars-pro-toto-Ausdruck für die kontinental europäische EU und ihre für Westeuropa flächendeckende Kultur, die aus der weströmischen Tradition hervorgegangen ist.

Kriegsbeute erzeuge Neid. Die Leitwährung sei die Kriegsbeute gewesen, schrieb ich im zweiten Teil.

Wenn es der strategischen Allianz „Russland/China“ beim Ukraine-Krieg um den Katalysator-Ruck ginge, der die ganze „Weltinsel“ erfassen soll, dann wäre der Ukraine-Krieg kein Krieg, in dem Terraingewinn oder Terrainverlust über den Kriegserfolg entscheiden. Dieser Krieg würde zum größten Teil nicht im strategischen Raum des Landes und der Landeroberung geführt. Vielmehr würde er im strategischen Raum des Kombikrieges geführt, der aus der Verschränkung von Wirtschaftskrieg und Militärkrieg besteht, und in dem der Militärkrieg nur eine unterstützende Funktion des Wirtschaftskrieges ist. Mit anderen Worten: die Kampfhandlungen hätte nur noch die Funktion eines Quasiterrorismus, der eine veränderte psychologische Situation in der Weltöffentlichkeit erzeugen soll.

„Strategie des Quasiterrorismus“ bedeutet: Angriff und Gewalt verfolgen nicht die klassischen Ziele „Landgewinn/Landverlust“ als Kriegsergebnisse. Angriff und Gewalt sollen vielmehr psychologische Wirkungen in der Welt der Nichtkriegsteilnehmer erzeugen. Eine dieser Wirkungen ist das Verhängen von Sanktionen, die sowohl die Volkswirtschaften der Sanktionenerheber belasten als auch die Volkswirtschaften der Sanktionenerleider. China hat in dieser Situation den Vorteil, den ein äußerer Beobachter hat, der Informationen sammelt über das Durchhaltevermögen der Staaten, die in das strategische Mittel der Wirtschaftssanktionen verwickelt sind. Für den Fall, dass China selbst eine kriegsartige Aktion plant, zum Beispiel die Einverleibung Taiwans, kann es seine Außenwirtschaftspolitik rechtzeitig anpassen, um von Sanktionen aus dem Westen unabhängig zu sein.

Der chinesische Außenminister hat dem Westen vorgeworfen, den Ukrainekrieg provoziert zu haben durch die ständige Annäherung der NATO an russisches Territorium und durch die ständige Vergrößerung der NATO seit der Wiedervereinigung Deutschlands. China beobachtet die Bemühungen der USA, die das Ziel verfolgen, im Asien-Pazifik-Raum ein NATO-ähnliches Bündnissystem zu schaffen. Es soll ein strategisches Netzwerk entstehen, das aus Südkorea, Japan, Australien, Neuseeland und Taiwan besteht. China ist bemüht, dieser „Pazifik-NATO“ ein eigenes Bündnissystem entgegenzustellen, vermeidet aber dabei – das ist zumindest die Einschätzung von Strategieanalysten und Chinakennern aus Singapur – China vermeidet es, in der Welt als Hegemon von Vasallen eines Asien-Pazifik-Bündnisses zu erscheinen. China will nicht, so scheint es, vor dem Rest der Welt die Hegemonialrolle übernehmen, die den USA als Kriegsbeute des Zweiten Weltkriegs zugefallen ist.

Fassen wir diese Analyse der eurasischen Geostrategie aus chinesischer Sicht zusammen: In China gibt es das Buch der 36 Strategeme. Dieses Buch ist in China sehr populär. Von ihm zirkulieren Ausgaben in Comicform, und es gehört zum Lehrstoff der Schulen.

In der Modellierung der 36 Strategeme ergibt sich folgendes Bild: Die strategische Gesamtsituation „Eurasien/Ukraine“ entspricht einer Kombination von Strategem Nr.3, Nr.5 und Nr.35.

Strategem Nr.3 lautet: „Mit dem Messer des anderen töten“. Das bedeutet: „Stellvertreterkrieg“.

Strategem Nr.5 lautet: „Ein Feuer für einen Raub ausnutzen“. Das ist die Strategie der manipulierten Aufmerksamkeitsökonomie: Die Menschen widmen ihre ganze Aufmerksamkeit dem „Feuer“, weil die Angst vor Flammen eine Urangst auslöst. Sie sehen dabei zwar auch, dass sie gleichzeitig beraubt werden, aber sie sehen den Raub, der sich vor ihren Augen abspielt, nicht wirklich. Mit anderen Worten: die Menschen sehen den Ukrainekrieg und sehen auch die steigenden Inzidenzzahlen der Corona-Pandemie, sehen diese aber nicht wirklich.

Strategem Nr.35, das sogenannte „Kettenstrategem“, bedeutet lediglich, dass man mehrere Strategeme miteinander kombinieren kann. In unserem Fall werden Strategem Nr.3 und Nr.5 gleichzeitig eingesetzt. Das „Feuer“ ist der Ukrainekrieg, der gleichzeitig „das Messer des Anderen“ ist.

Die 36 Strategeme zeigen uns, dass strategisches Denken in China Teil der Allgemeinbildung ist, ja, dass es in der proverbialen Form der Strategeme sogar volkstümlich ist. Das ist in Europa, vor allem in Deutschland, nicht der Fall. Hier geraten die Menschen in Panik, wenn sie mit strategischen Gedanken konfrontiert werden. (Siehe oben, zweiter Teil: mein abgelehnter NZZ-Essay über die amerikanische Militärdoktrin). Die Konfrontation mit Militärstrategie versetzt bei uns die Menschen in blankes Entsetzen. Dann neigen sie zu Überreaktionen und zu übereiltem Handeln, selbst wenn der Krieg, mit dem sie konfrontiert werden, nicht ihr Krieg ist. Sie glauben zwanghaft, sich mit einer der Kriegsparteien identifizieren und sofort reagieren zu müssen. Sie bewerten kriegerische Konflikte so wie Konflikte zwischen Individuen und rufen immer nach dem Völkerrecht, von dem sie irrigerweise glauben, es habe die Macht, über Kriege zu richten und Kriege zu verbieten.

Im Gegensatz zu dieser aufgeregten Reaktion erscheint Krieg im Buch der 36 Strategeme als ein Phänomen, das man ruhig beobachtet, und bei dem man geduldig darauf wartet, dass sich Chancen für den eigenen Vorteil ergeben.

Die Europäer, besonders die Deutschen, sehen in ihrer Aufregung nur das „Feuer“. Sie sehen aber nicht den „Raub“. Denn durch die Bekämpfung des „Feuers“ werden sie so sehr geschwächt, dass sie alle Macht verlieren, die sie beim Wettkampf mit China dringend benötigen würden. Sie verlieren durch das „Feuer“ und durch die Sanktionen, mit deren Hilfe sie glauben das „Feuer“ bekämpfen zu können, so viel Steuergelder und Gelder für die Lebenshaltung, dass sie nicht mehr fähig sind, Corona zu bekämpfen, denn es müssen Ausgaben für das Gesundheitswesen eingespart werden.

In der inneren Entwicklung der chinesischen Kultur gibt es einige interessante Tendenzen, die ihrerseits das Format von Kulturstrategemen haben:

Schon vor der Zeit von Xi Jinping propagierte die KP Chinas das, was sie das dreifache Selbstvertrauen nannte, und was die Handlungsweise der Partei prägen sollte: erstens, das Vertrauen in den eigenen Weg; zweitens, das Vertrauen in die eigenen Theorien und drittens, das Vertrauen in das eigene System. Xi Jinping fügte im Jahr 2014 diesem 3-Punkte-Programm einen vierten Programmpunkt hinzu: das Vertrauen in die eigene, mehr als 5000 Jahre alte, nie von Phasen der Barbarei unterbrochene Kultur. Erst sie bilde die Basis für die drei anderen Formen des Selbstvertrauens.

Xi Jinping spricht in seinen Reden oft von einem politischen Ziel, das in der englischen Übersetzung „Rejuvenation“ (Wiederverjüngung) genannt wird. Mit „Rejuvenation“ verbindet sich ein Versprechen, das China zu einem prosperierenden und harmonischen Land machen soll. Zu dieser Harmonie gehört auch die Wiederherstellung der integralen territorialen Form. Das aber ist ohne die Wiedereinverleibung Taiwans nicht möglich. Xi Jinping – das ist zumindest die Meinung von Singapurer Analysten – muss in seinem politischen Leben noch einige Taten vollbringen, um auf gleicher Augenhöhe mit seinen großen Vorgängern Deng Xiaoping und Mao Zedong zu erscheinen. Zu den Taten, die man von ihm erwartet, gehört auch die Rückgewinnung von Taiwan.

Die Kommunistische Partei Chinas hat sich ein Zeitfenster geschaffen, in dem die zu erwartende Vollendung erreicht werden soll.. Dieses Zeitfenster ergibt sich aus den hundertjährigen Jubiläen von zwei Ereignissen, die im 20. Jahrhundert stattgefunden haben. Das erste Ereignis fand im Jahr 1921 statt. Es war das Jahr, in dem die Kommunistische Partei Chinas gegründet wurde. Das zweite Jubiläumsjahr ergibt sich aus der Jahreszahl 1949. Es war das Jahr, in dem die Volksrepublik China gegründet wurde. Daraus resultiert für das 21. Jahrhundert das Zeitfenster „von 2021 bis 2049“.

Vor diesem Zeithorizont beobachtet China das Weltgeschehen. Und es leistet vor diesem Zeitfenster seine Nudging-Arbeit, sein „Anstupsen“ der geopolitischen Entwicklung.

Die Hoffnung auf die Vollendung eines großen politischen Werks wird mit dem Begriff „Rejuvenation“ ausgedrückt. Das chinesische Wort für „Rejuvenation“ lautet: „fuxing“. Es bedeutet: „Wiedererlangung eines Zustandes wie in der Jugend“.

Im Zusammenhang mit der Rejuvenation wird oft vom „chinesischen Traum“ gesprochen, und es ist von vielen Seiten betont worden, man sollte die Vorstellung vom „Chinese Dream“ nicht als bloße Kopie des „American Dream“ betrachten. Denn das Ziel des „Chinese Dream“, der chinesischen Wiederverjüngung scheint eine ganz spezielle Vision zu sein, die im „chinesischen Traum“ enthalten ist. Handelt es sich dabei um ein Äquivalent zur Renaissance in der europäischen Kultur?

Um ein Äquivalent kann es sich nicht handeln, denn die europäische Renaissance hat vor 700 Jahren stattgefunden, und ihre Auswirkungen haben sich über 500 Jahre bis zur französischen Revolution erstreckt. In der jetzigen Epoche der verschränkten Krisen findet sich in Europa niemand, der an eine Rettung durch eine neue Renaissance glauben würde.

Die europäische Renaissance war eine Renaissance des römischen decorum. Sie begann im 14. Jahrhundert in Italien. Für Europa ist Renaissance eine kulturelle Erfahrung der Vergangenheit. Sie ist, in der kulturellen Eigenwahrnehmung, nicht eine dynamische Kraft die Epochen erzeugt. Sie ist vielmehr selbst eine Epoche. Aber diese Sicht der Geschichte kann sich auch in Europa ändern, und aus der Renaissance als Epoche der Vergangenheit kann eine Renaissance als kulturelle Antriebskraft werden.

Im ersten Teil dieses Essays stellte ich die kulturellen Anpassungen dar, die nach der Niederschlagung des deutschen Nationalsozialismus erfolgten. Ich deutete die damit verbundene Durchsetzung der Kunst- und Kulturmoderne als eine Verdrängung des decorum ins kulturelle Unbewusste. Wenn also die Renaissance des decorum die kulturelle Evolution ausgelöst hat, die in der französischen Revolution gipfelte, dann war die Verdrängung des decorum durch die Kunst- und Kulturmoderne eine Entwicklung der Konterrenaissance. Die Hoffnung auf eine bessere Welt nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich dar als Konterrenaissance.

Renaissancen fänden im Raum des regelgelenkten Verhaltens statt, sagte ich. Die beiden großen Fallbeispiele von regelgelenktem Verhalten seien im Westen die Decorum-Regeln und in China die li-Regeln. Demnach müsste sich in China, wenn es denn tatsächlich - gemäß der hier vorgeschlagenen Definition – zu einer renaissanceartigen Erneuerungsbewegung kommen sollte, dann müsste es sich in China um eine Renaissance der li-Rituale handeln.

Hat China in seiner kulturellen Entwicklung Erfahrungen mit Renaissancen gemacht? Einige Sinologen scheinen vom Gegenteil überzeugt zu sein.

Wenn es unter Xi Jinping tatsächlich zu einer Erneuerung im Renaissance-Modus kommen sollte, dann ist diese Erfahrung der chinesischen Kultur nicht fremd. Im Zusammenhang mit dem Hinweis auf die Einzigartigkeit des „chinesischen Traums“ wird oft auf ein Gedicht verwiesen, dass der Maler und Dichter Zheng Sixiao im zwölften Jahrhundert n. Chr. geschrieben hat. Zu dieser Zeit herrschte in China die Song-Dynastie. Zheng Sixiao lehnte die Song-Dynastie als dekadent und politisch unfähig ab.

Zheng Sixiaos Gedicht hat in der englischen Übersetzung den Titel „The Flowing Spring“. Der Dichter beschreibt sein Erwachen nach einem Traum, in dem ihm die Kultur der Zhou-Dynastie erschienen war. Die Zhou-Dynastie herrschte vom zwölften Jahrhundert bis zum fünften Jahrhundert v. Chr. und unterteilte sich in eine erste Phase, die Westliche Zhou-Dynastie, und eine zweite Phase, die Östliche Zhou-Dynastie. Die zweite Phase war die Epoche, in der Konfuzius lebte. Ich stelle im Folgenden meinem Leser Zheng Sixiaos Gedicht in deutscher Sprache vor und stütze mich bei meiner Wiedergabe auf die englische Übersetzung.

Zunächst das Gedicht in altem Chinesisch:

Dann in neuem Chinesisch:

Mein Näherungsversuch in deutscher Sprache:

Kalt fließen die Wasser von dieser Quelle herab
und ergießen sich über das buschige Wolfsgras.
Und ich! Ich erwache und seufze
und denke an die Hauptstadt der Zhou-Dynastie.

Kalt fließen die Wasser von dieser Quelle herab und ergießen sich über die buschigen Südwaldbäume.
Und ich! Ich erwache und seufze,
und denke an die Hauptstadt der Zhou-Dynastie

Kalt fließen die Wasser von dieser Quelle herab
und ergießen sich über die buschigen Pflanzen, die unter sich das Wasser erkennen.
Oh, ich! Ich erwache
und denke an jene Stadt der Herrlichkeit.
In Schönheit wuchsen die Felder mit knospender Gerste
benetzt von fruchtbaren Regen.
Die Staaten hatten Majestät
und da war der Führer der Xun, um die Prinzen zu ehren.

Wenn China eine bessere Zukunft unter dem Motto der Rückkehr zu einer Jugendzeit der Kultur anstrebt, dann stehen ihm frühere Rückbesinnungen der eigenen Kultur an noch frühere Jugendzeiten als Vorbild zur Verfügung. Das Gedicht von Zheng Sixiao liefert uns einen Hinweis.

Das Rejuvenationsversprechen reiht sich ein in die Liste der Kulturstrategeme:

  1. Bilderlose Kunstmoderne mit Art-Influencern: Kulturstrategem der USA.
  2. Russische Orthodoxie vs. „Sündiger Westen“;
    erstens: Kulturstrategem für China und die Auslösung eines eurasischen „Rucks“;
    Zweitens: russisches Kulturstrategem zur Legitimation des Ukraine- Krieges.
  3. Chinesische Rejuvenation: chinesisches Kulturstrategem.

Mir als europäischem Schüler der italienischen Renaissance liefert an dieser Stelle der Kulturvergleich die Möglichkeit, einige Gesetzmäßigkeiten der Kulturevolution zu erkennen, die mit Renaissancen zu tun haben:

Renaissancen sind Phänomene der kulturellen Propriozeption.

Renaissancen sind intrakulturelle Erfahrungen des Kulturrelativismus.

Renaissancen sind die einzigen Evolutionsphänomene, in denen verlorene Komplexität zurückgewonnen werden kann.

Renaissancefähig sind Kulturen, sobald die Regeln ihres regelgelenkten Verhaltens in Artefakten (archäologisch oder archivalisch) gespeichert sind. Renaissancen sind Ausdruck von kulturellem Stolz und kulturellem Ehrgeiz.


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