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25.11.2022

Hyperlokale Gebäude

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Im Entwicklungsprogramm der hyperlokalen Räume werden virtuelle Räume mit realen Räumen verknüpft. Das Bindemittel, das beide Bereiche miteinander verzahnt, ist die Integration von Virtualität und Realität auf gemeinsamen Grundrissen.

Nehmen wir als Beispiel das klassische Pariser Appartement: Die Eingangstür hat zwei Flügel. Sie führen in ein Entrée. Von dort geht es durch eine ebenfalls zweiflügelige Tür in den Salon mit Kamin. Über dem Kamin hängt ein Bild oder ein Spiegel, das bedeutet: Schnittstelle mit einem nicht realen Raum. Vom Salon geht es - abermals zweiflügelig - in den Speisesaal.

Nehmen wir an, dieses Appartement befindet sich in Paris im 5ten Arrondissement, in der Nähe des Quai d’Orsay. Weil die französischen Appartements der Jahrhundertwendezeit – das ist die Zeit, in der Paris und die anderen großen Städte Frankreichs ihren städtebaulichen Charakter erhielten – weil diese französischen Appartements mit ihrer Raumfolge zur Modulbildung neigen, können wir uns vorstellen, dass unser Appartement der Familie im Pariser 5ten Arrondissement und ein Appartement von Verwandten in Lyon einen fast gleichen Grundriss haben. Es fällt dann nicht schwer, sich anstelle der Flügeltür zwischen Salon und Speisesaal eine Flügeltür aus Bildschirmmaterial vorzustellen, die man sowohl real als auch virtuell öffnen kann. Öffnet man die Tür in Paris real, sieht man hinter der Schnittstelle (reale Tür) den angrenzenden realen Speisesaal. Öffnet man sie virtuell, sieht man hinter der Schnittstelle den homeomorphen Speisesaal des Lyoner Appartements, in dem sich die Verwandtschaft aus Lyon versammelt hat, und gerade ihre Champagnergläser hebt, um gemeinsam mit der Pariser Verwandtschaft eine hyperlokale Familienfeier zu begehen. Die Perfektion der Illusion ist einer raffinierten Kamerainstallation zu verdanken, die den Pariser Salon nach Lyon und das Lyoner Speisezimmer nach Paris teleportiert.

Es deutet sich bereits an, dass für die intuitive Orientierung in diesem hyperlokalen Raumarrangement die Passagen zwischen den Räumen und die architektonischen Kennzeichnungen dieser Passagen besonders wichtig sind. Diese Passagen haben in der hyperlokalen Reziprozität von Virtualität und Realität die Funktion von „marqueurs de passage“ (passage markers). In dieser Angelegenheit kommen uns die Pariser Appartements, ebenso die Lyoner, Bordelaiser etc., Appartements sehr entgegen, denn die Übergänge von einem Raum in den anderen werden fast immer von Respekt einflößenden Flügeltüren gebildet.

Die hyperlokale Architektur soll Lösungen für eine Zukunft anbieten, in der Reisen mit dem Ziel der physischen Zusammenführung von Menschen aus zwei Gründen nicht wünschenswert sind. Erstens, weil sie durch die Energieentropie und die Emissionen der Transportmittel die Erdatmosphäre schädigen und das Klima auf eine Weise verändern, die das Überleben großer Teile der Menschen- Tier- und Pflanzenpopulationen gefährdet.

Zweitens, weil reale Menschenversammlungen Epidemien auf dem Entwicklungsstand von SARS CoV2 unkontrollierbar machen. Denn von den in Wellen erscheinenden Epidemien ist anzunehmen, dass sie sich iterativ verhalten werden. Das bedeutet: Selbst wenn die letzte Epidemie mithilfe von Durchseuchung und Impfung eingedämmt ist, muss man damit rechnen, dass sich neue Epidemien ausbreiten werden, und dass ihre Infektiositätssteuerung durch lernende Viren optimiert wird. Diese beiden Begründungen für eine hyperlokale Architektur implizieren das Argument, dass die Maßnahmen, die gut sind für Pandemiebekämpfung, auch gut sind für Klimaschutz.

Genealogie der hyperlokalen Räume

Prototypen sind Vorbilder, die oft nachgeahmt werden. Sie werden kopiert und imitiert. Je öfter sie imitiert werden, desto größer ist der Prototypeneffekt. Je größer der Prototypeneffekt, desto größer die Wahrscheinlichkeit, Kontexte anzutreffen, die für die Prototypen typisch sind, und, vice versa, Prototypen, die für die Kontexte typisch sind.

Das Imitationsvermögen ist den Menschen angeboren. Imitation ist ein Erfolgsrezept des Lebens. Imitation ermöglicht die Erhaltung dessen, was einmal erreicht ist. Imitation ist auch ein Erfolgsrezept der menschlichen Lernökonomie. Was man imitieren kann, muss man nicht durch neuerfindendes Lernen immer wieder neu entdecken. Dadurch werden Lernkapazitäten frei für echte Neuentdeckungen.

Die Darwinsche Modellierung des Lebens basiert auf der Formel „Variation/Selektion/Reproduktion“. Von den New-Synthesis-Biologen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Haldane etc.) ist das Darwin-Modell formalisiert und dadurch übertragbar gemacht worden. Von diesen Biologen und ihrer Entourage wurden die Begriffe „repron“ und „phenem“ eingeführt. Das phenem ist in diesem Theoriemodell das Resultat der Reproduktion: der Phänotyp. Das repron ist die Blaupause der Reproduktion. So gesehen ist die angeborene Fähigkeit der Imitation ein repron. Auch die Prototypen, die Vorbilder der Imitation und die generativen Quellen von Typikalität, sind in diesem Modell reprone.

Archetypen sind mehr als Prototypen. Sie sind nicht nur Vorbilder für Imitation, die sich in der Realität zeigen wie die Prototypen. Sie sind im Gedächtnis eingespeicherte Prototypen mit der zusätzlichen Eigenschaft, angeboren zu sein und aus dem Unbewussten zu wirken.

Für die analytischen Psychologen sind Archetypen Urkräfte der Seele, die das Unbewusste beherrschen, immer wieder hervorkommen und den Seelenzustand beeinflussen. Bereits C.G. Jung hat so etwas wie eine lexikalische Archetypenforschung betrieben. Bei ihm wird beispielsweise die hypothetische archetypische „Anima-Animus-Struktur“ mit dem Mond und der Sonne in Zusammenhang gebracht. Und auf die Sonne wird die kulturelle Rolle des Königs bezogen.

Bei Zuordnungen dieser Art handelt es sich um tropenähnliche Bündelsysteme. Denn nicht die Sonne, nicht der König, nicht Animus, die männliche Gendervariante der Seele, sind für sich genommen Archetypen. Der eigentliche Archetyp ist die Beziehung zwischen ihnen. Es ist die Beziehung zwischen der Tiefenstruktur und den Oberflächenstrukturen „König“, „Sonne“ etc. Auch hier handelt es sich um das Phänomen des Bündels wie in der Tropenontologie und in den rhetorischen Tropenregeln.

Auch die Dramaturgie, die Lehre von der Wirkung des Theaters, nimmt an, dass die Wirkung des Theaters verstärkt wird, mit anderen Worten, dass Theater „mehr unter die Haut geht“, wenn man Archetypen in die Darstellung einbezieht. Das bedeutet: Man muß einem gegebenen Narrativ den korrespondierenden Archetypus hinzufügen, falls es ihn gibt. Dementsprechend müsste man in einer Shakespeare-Szene, in der die Majestät des Königs dargestellt werden soll, die Sonne erscheinen lassen.

Ebenfalls ist die analytische Psychologie der Meinung, dass Archetypen neurotische Störungen verursachen, falls sie, durch ein Stichwort aktiviert, im unbewussten Hintergrund bereitgestellt aber verdrängt werden. Das bedeutet: Da sie im Unbewussten das bewusste Geschehen begleiten, muss man sie aufspüren, d.h., man muss sich vergewissern, dass es in einem gegebenen Fall keine versteckten Archetypen gibt, oder man muss sie, falls man sie entdeckt, mit dem bewussten Narrativen in Einklang bringen. Wirken sie jedoch erratisch auf der Grenze zwischen Unbewusstem und Bewusstem, entstehen kulturelle Falschbesetzungen und neurosenartige Ästhetikeffekte.

Es stellt sich die Frage, ob es archetypische Bündelstrukturen auch im Bereich der Morphologie von Raumstrukturen gibt.

Zweite Frage: Können auch historische Epochen archetypische Kräfte entwickeln und auf nachfolgende Epochen einwirken wie Archetypen? Gibt es zum Beispiel archetypische hyperlokale Räume, und könnten sie einen historischen Ursprung haben?

Archetypen müssen angeboren sein: so das Postulat der analytischen Psychologie. Ob etwas angeboren ist, kann man auch mit anderen Methoden erforschen als mit der C.G Jungschen Synopse von Traumdeutung und Mythenforschung. Bei C.G. Jung ersetzte die Traumdeutung die naturwissenschaftliche Analyse und die Mythenforschung fungierte als kulturwissenschaftliche Analyse.

Man kann die quasi naturwissenschaftliche Traumdeutung durch neurophysiologische Experimente ersetzen und dabei Probanden mit Stimuli konfrontieren, die sie während der Zeit ihres eigenen Lebens nie kennengelernt haben. Auf diese Weise kann man versuchen herauszufinden, ob derartige Stimuli trotz ihrer biographischen Unbekanntheit im Neurosystem der Probanden wiedererkennungsartige Effekte auslösen.

Man kann die Reproduktion von kulturellen Prototypen als kulturelle Variante der Umweltentstehung betrachten und dann nach kulturgenetischer Koevolution forschen. Dabei geht man davon aus, dass es nicht nur genetische Selektionseinflüsse gibt, die von natürlichen Umwelten ausgehen, sondern dass derartige Einflüsse auch von kulturellen Umwelten ausgehen können. Und man geht davon aus, dass auf diese Weise ein epigenetischer Anpassungsprozess ausgelöst wird, und dass am Ende das Genom in bestimmten kulturellen Umwelten andere Eigenschaften hat als das Genom anderer Kulturen.

Diese Überlegungen führen zu folgender These. Sie betrifft das Decorum-Regelwerk und lautet:

„Das Decorum-Phänomen ist eine archetypische Tiefenstruktur.“ Das Regelsystem des decorum reguliert die semantischen Überlagerungen der Tropensprache, und es reguliert Überlagerungen in hyperlokalen Raumsystemen. Das decorum verklammert somit bündelartig die großen Kulturbereiche Sprache und Architektur.

Wenn das decorum ein Archetyp ist, dann muss es erstens aus dem Unbewussten wirken, und es muss sich zweitens als eine Bündelstruktur manifestieren, die mehrere Einzelphänomene miteinander verbindet.

Die Unbewusstheit der Decorum-Wirkung wurde von den Experimenten der TRACE-Gruppe für drei Bereiche nachgewiesen:

  1. Die wiedererkennungsartigen neuronalen Effekte wurden nicht mit den Neuroreaktionen von Individuen korreliert, sondern mit den gemittelten Neuroreaktionen von statistisch relevanten Probandenkollektiven. D.h.: Die beobachtete quasi Wiedererkennung wurde nicht in Einzelerhebungen mit Individuen beobachtet und kann folglich nicht mit Individualverhalten und nicht mit individuellem Bewusstsein in Verbindung gebracht werden. Fazit: Dieser experimentell beobachtete Decorum-Effekt manifestiert sich außerhalb des individuellen Bewusstseins.
  2. Die wiedererkennungsartigen Effekte manifestierten sich im Zeitfenster von 0 ms bis 300 ms nach Stimulus-Empfang. Erst im Zeitfenster 300 ms bis 600 ms wird das Neurosystem sich dessen bewusst, was es sieht. Dies ist ein zweites Argument, das für die Unbewusstheit der Decorum-Wirkung spricht.
  3. Die Experimente arbeiteten mit einer Menge von 240 Bildstimuli. Davon stellten nur 120 Bilder Gebäude dar. Die übrigen stellten beliebige Objekte dar, die keine Gebäude sind. Von den 120 Gebäudebildern stellten 60 Bilder Gebäude mit Ornament von hohem Decorum-Ranking dar. Die übrigen 60 Bilder stellten Gebäude mit niedrigem Decorum-Ranking dar. Die Probanden erhielten den Auftrag, Gebäude von Objekten, die keine Gebäude sind, zu unterscheiden und beim Erkennen eines Gebäudes auf einen Knopf zu drücken. Das Bewusstsein der Probanden war somit durch diese Aufgabe in eine falsche Richtung gelenkt. Obwohl das Bewusstsein durch die irreführende Frage nach dem Unterschied von Gebäuden und Nicht-Gebäuden abgelenkt war, erkannten die Gehirne der Probanden den Decorum-Unterschied von High-Ranking-Decorum und Low-Ranking-Decorum. Folglich handelte es sich auch bei dieser Reaktion auf decorum um eine Leistung des Unbewussten.
Gleiche Experimente, die vom TRACE-Team und chinesischen Kollegen in Peking durchgeführt wurden, haben gezeigt, dass sich die unbewusste Reaktion auf europäisches decorum bei chinesischen Probanden nicht manifestierte. Aus dieser Beobachtung eines interkulturellen Unterschieds ergeben sich zwei mögliche Rückschlüsse:

  1. Die unterschiedliche Reaktion ist auf unterschiedliche genetische Evolution zurückzuführen. Dann würde es sich um einen angeborenen Unterschied zwischen menschlichen Rassen handeln, wie die bei verschiedenen Rassen unterschiedliche Fähigkeit, Laktose zu verdauen, oder wie rassenspezifische Unterschiede bei der Reaktion auf pharmakologische Wirkstoffe. (In der hier verwendeten Terminologie hat die Vokabel „Rasse“ keinerlei ideologische oder politische Bedeutung. Es handelt sich nur um genetisch bedingte Unterschiede zwischen Kollektiven, wie sie sich beispielsweise in der Pharmakologie zeigen.)
  2. Die unterschiedliche Reaktion ist Resultat von kulturgenetischer Koevolution nach dem oben beschriebenen Schema: Unterschiedliche Kulturentwicklungen erzeugen unterschiedlichen Selektionsdruck aus der Umwelt und beeinflussen die genetische Entwicklung durch epigenetische Effekte. Diese Variante der Experimentauswertung ist eleganter und „kultureller“ als die rein genetische Rassenvariante. Denn sie unterstellt einen sogenannten Versklavungseffekt, der von der Kultur ausgeht und das genetische System als Funktion der Kultur erscheinen lässt.
Aus diesen Beobachtungen ergibt sich die Hypothese, dass es sich beim decorum um einen Effekt des Unbewussten handelt. In diesem Fall wäre für das decorum eine der Bedingungen für eine Klassifizierung als Archetyp erfüllt.

Die zweite Bedingung wird in der Frage ausgedrückt, ob diese unbewusste Struktur verschiedenartige Bereiche der kulturellen Realität bündelt, und, wenn ja, um welche Bereiche es sich handelt. Die zu erkundende Struktur sähe dann etwa folgendermaßen aus: Eine generative Struktur des Unbewussten reguliert durch Verkoppelung mehr als einen Funktionsbereich der bewusst wahrnehmbaren Kultur.

Es stellt sich die Frage, ob sie das wirklich tut. Die Antworten lauten:

  1. Das decorum reguliert die Überlagerungen der Tropensprache.
  2. Das decorum reguliert die Überlagerungen der architektonischen Räume.
  3. Das decorum reguliert die Überlagerungen von architektonischen Orten und rhetorischen Ereignissen in der Zeit (Reden und Liturgien, die in Architekturen stattfinden)
Das würde bedeuten: Sprachen und Räume, die beiden wichtigsten Bereiche des kulturellen Verhaltens, sind durch Archetypen-Regulation miteinander verzahnt.

Diese Beziehung erinnert an die dramaturgischen Verstärkungseffekte, von denen die Theatermacher glauben, dass sie durch archetypische Bezüge bewirkt werden, etwa wenn die Wahrnehmung der Sonne und die Wahrnehmung des Maiestas-Verhaltens eines Königs einander verstärken. Ebenso ist zu vermuten, dass Decorum-Sprache in Decorum-Architektur eine kulturell verstärkte Wirkung erzielt, und dass das decorum einer Architektur, in der Decorum-Sprache vorgetragen wird, zu einem verstärkten ästhetischen Impact verhilft.

Doch der eigentliche Untersuchungsgegenstand, um den es hier geht, ist die hyperlokale Struktur von Räumen und die Frage, ob neben dem übergeordneten Organisationsbündel „Sprache/Architektur“ auch im Untersystem „Architektur“ die strukturelle Bündelung von einander überlagernden Räumen durch den Archetypeffekt des decorum bewirkt wird.

Diese Frage wird wichtig sein für die Konzeption einer hyperlokalen Architektur der Zukunft. In der Zukunft soll die Hyperlokalität den Zwang der physischen Anwesenheit ersetzen, um Architektursysteme bereitzustellen, die auch unter der Bedingung einer ubiquitären Infektionsgefahr Versammlungen von Menschen ermöglichen.

Die Ausgangsfrage lautet: Können auch von historischen Epochen der fernen Vergangenheit archetypische morphogenetische-Effekte für die Zukunft ausgehen?

Prototypisch für die europäische Architektur ist das Formenensemble, das aus Säulen, darauf aufliegendem waagerechtem Gebälk mit über dem Gebälk liegenden Gesims besteht, und aus einem über Gebälk und Gesims aufragenden Giebel. Diese Form erscheint zum ersten Mal an den Tempeln der griechischen polytheistischen Religion, - und zwar vor 2500 Jahren.

Nebenbei bemerkt: dieser Form dominiert auch die amerikanische Architektur des Capitols und des Weißen Hauses, die Gebäude von denen ein erregter Senator sagte, ihr „decorum“ sei „violated“ durch das Eindringen von militanten Demonstranten zum Ende der Regierungszeit von Donald Trump.

Eine zweite prototypische Form der europäischen Architektur ist die Maueröffnung, entweder mit einem geraden Sturz, oder mit einem halbkreisförmigen Rundbogen als oberem Abschluss. Die Maueröffnung mit geradem Sturz ist die Tempeltür. Die Maueröffnung mit Rundbogenabschluss ist typisch für das Stadttor und damit typisch für Fortifikation. Und sie ist typisch für die römische Architektur. Sie ist zum Beispiel prototypisch im römischen Triumphbogen enthalten.

Die rundbogenförmige Öffnung gewährleistet das Prinzip der Semipermeabilität für Fortifikationsanlagen. Verglichen mit dem geraden Sturz als oberem Abschluss ermöglicht die Statik des Rundbogens den Bau von breiteren Toröffnungen.

Die prototypische Stadttoröffnung enthält noch ein weiteres formales Element. Über dem Gesims des Stadttores befindet sich eine stark befestigte Mauer, die den Rollenmechanismus eines Fallgitters vor feindlichen Wurfgeschossen schützt. Das schnelle Heben und Senken des Fallgitters ist wichtig für die militärische Taktik des Öffnens und Schließens von Befestigungsanlagen. Dabei geht es um das Hereinlassen und Abweisen von Menschen.

Diese obere Schutzmauer nennt man „Attika“. Die Attika ist integraler Bestandteil der prototypischen Architekturformen „Mauerportal“ und „Triumphbogen“.

Die genaue Analyse der Raumverschachtelung des griechischen Tempels zwingt uns zum Rückgriff auf ein nicht unkompliziertes topologisches Modell. Man erkennt, dass diese Architektur sich mit dem einfachen Schema der euklidischen Geometrie nicht abbilden lässt, dass man somit eine höhere Stufe der geometrischen Abstraktion besteigen muss, und dass die Darstellung, die sich auf diese Weise ergibt, dem Leser viel Geduld abverlangt. Denn der Basisraum des griechischen Tempels ist das Pteron, ein durch offene Säulenreihen von der Umwelt abgegrenzter Raum. Die Säulen des Pteron tragen den Dachstuhl.

Wenn man die Stufen des Stylobat, der abgestuften Unterkonstruktion des Tempels, hinaufsteigt und die Säulenreihe an einem beliebigen Punkt durchquert, befindet man sich in einem Raum, der die topologische Form eines hohlen Torus hat. Man kann ihn mit einem Fahrradschlauch vergleichen. Die Toruswände bestehen aus dem Fußboden des Stylobat, den aufgereihten Säulen, der waagerechten Decke und der Außenmauer der Tempelcella. Dieser Torus hat zwei topologische Öffnungen. Die erste Öffnung ist das Säulenintervall, das für das Betreten des Säuleninnenraums gewählt wird. Die zweite topologische Öffnung, die auf der – topologisch betrachtet - gegenüberliegenden Seite aus dem Torus hinausführt, ist die Tür, die in die Tempelcella hineinführt.

Diese Öffnungen liegen einander, im topologischen Sinne, gegenüber. Sie sind durch die Form des Torus über einen Kobordismus miteinander verbunden. In der topologischen Modellierung haben die beiden Öffnungen die Form von Kreisen bzw. topologisch ausgedrückt: die Form von eindimensionalen Sphären (sog, „1Sphären“). Das bedeutet: der Torus definiert eine notwendige Beziehung zwischen den beiden „kreisförmigen“ Raumöffnungen. Diese notwendige Beziehung wird „Kobordismus“ genannt. Auch hier begegnet uns das in der Natur so beliebte Spiel von Innen und Außen.

Es gibt eine Außenseite und eine Innenseite, die von der Fahrradschlauchform „Torus“ abgegrenzt wird. Die Außenseite ist die Umwelt. Die Innenseite ist die Tempelcella. Die Zweifachpassage durch die Kobordismus- Kreisöffnungen würde eigentlich in den Innenraum der Cella führen. Doch die zweite Passage, die durch die Cellatür, darf nicht stattfinden. Denn der Cella-Innenraum ist der Raum des Götterbildes und darf nicht betreten werden. Die Menschen sind nur durch die geöffnete Tempeltür mit dem Innenraum verbunden. Das Öffnen der Tempeltür ist eine rituelle Handlung und findet nur während des Opferzeremoniells statt. Das Opfer wird dem Gott dargebracht, der den Tempel bewohnt. Das Opferzeremoniell wird auf einem Altar durchgeführt, der sich vor der Tempelfassade befindet, im Sichtbereich der Cellatür, in der Regel auf der Symmetrieachse, die das mittlere Säulenintervall und die Tempeltür miteinander verbindet.

Die komplizierte Raumverschachtelung rund um den Torus hat eine Torusaußenseite (Umwelt) und eine Torusinnenseite (Cella). Die Vorstellung von der „Außenseite“ ergibt sich, wenn ein Fahrradschlauch auf einem ebenen Boden liegt und auf diese Weise einen runden „Innenhof“ einschließt, und dadurch zum Beispiel kleine Tiere, die von außen kommen, daran hindert, in den „Innenhof“ einzudringen. Wenn man sich des Weiteren vorstellt, auf dem Fahrradschlauch liege eine Platte aus Sperrholz, dann würden der Fahrradschlauch, der Unterboden und die Sperrholzplatte einen 3D-Innenraum abgrenzen. Dieser 3D-Innenraum entspräche der Tempelcella, und der Fahrradschlauch entspräche dem Raum zwischen Pteron, Stylobat, Decke und Cellawand.

Der „Innenraum“ inmitten des Fahrradreifens, unter der Sperrholzplatte, lässt sich nicht aus der Konstruktionslogik des Torus ableiten (Zusammenrollen eines rechteckigen Papierblattes zu einem Rohr, Zusammenbiegen des Rohres in eine Kreisform und verschmelzen der beiden Rohrend-Kreise). Zwischen dem Fahrradschlauch bzw. Torusinnenraum und dem durch Fahrradschlauch Fußboden und aufliegender Sperrholzplatte gebildeten Raum gibt es somit keine kohärente geometrische Beziehung, sondern nur eine korrelierte, mit anderen Worten: eine tropenartige Bündel-Beziehung.

Zwei durch den Toruskobordismus miteinander verlinkte Kreise (Kolonnadeneintritt/Tempeltür), eine Öffnung, die nach „außen“ führt, und eine, die nach „innen“ führt, so dass beide Öffnungen einander gewissermaßen „gegenüber“ liegen, erzeugen die Anlagerung eines begehbaren Raums (hinter dem Pteron) und eines Raums, der virtuell, weil heilig und damit unbegehbar ist (Tempelcella). Dieser über einen Passagenkobordismus an einen Raumtorus angelagerte heilige Raum befindet sich außerhalb der profanen Welt.

„Außerhalb“, das war die Bedeutung der antiken Worte für „heilig“: „sacer“ (lat.) und „hieros“ (gr.). Es wird erkennbar, dass die Begriffe „heilig“ und „profan“ eine paraphrasierende Darstellung der Begriffe „außen“ und „innen“ sind.

Die hier dargestellte Raumverbindung erzeugt den Raumeffekt der Hyperlokalität. Sie erzeugt ihn durch die Kopplung eines lokalen, weil profanen Raums an einen hyperlokalen, weil heiligen, alias transzendenten Raum. Die räumliche Struktur ist mit ihrer Kombination von Torus und Kobordismus und dem daraus resultierenden Innen/Außen-Effekt bei weitem komplexer als die euklidischen Raummodellierungen der Architektur des 20. Jahrhunderts.

Reduziert man die Tempelfassade auf ihre kleinste wiedererkennbare Form, auf das „Templem“ sozusagen, so entsteht die „Ädikula“ („Templem“: eine Wortbildung wie das „Narrem“ der Naratologie, das die kleinste narrative Einheit in einem Narrativ beschreibt)

„Ädikula“: das sind zwei Säulen unter einem Gebälk und einem Giebel. Die Ädikula hat die architektonische Funktion eines „marqueur de passage“ (eines passage-markers). Dabei hat das Wort „Passage“ – vor allem dank des Einflusses der Kulturanthropologie – eine Bedeutung angenommen, die über die Bedeutung des bloßen Durchquerens eines Raumtrenners hinausgeht. Man denke etwa an die Bedeutung des anthropologischen Begriffs „rites de passage“. Damit sind Übergangsriten gemeint, die von einem Lebensalter in ein anderes Lebensalter führen. Das können zum Beispiel Initiationsriten sein.

Der Passage-Marker ist zu unterscheiden von der realen Passage. Die reale Passage ist die einfache Maueröffnung, zum Beispiel der Torbogen mit halbkreisförmigem oberem Abschluss. Auch diese Form ist eine Grundform und eine kleinste Einheit in der traditionellen Architektur. Nach dem lateinischen Wort für Tor, „porta“, könnte man sie das „Portem“ nennen. In der Kombination „Templem/Portem“ steht dann das Wort „Portem“ für die reale Passage, und das Wort „Templem“ nur für den Marker der rituellen Passage.

Die Doppelstruktur Passage vs. Passage-Marker eröffnet folgende Möglichkeiten: Sofern sie sich im Hintergrundwissen der kulturellen Raumorientierung eingenistet hat, kann es bei der Templem/Portem-Struktur einfache Passagen ohne Marker geben. Das wäre die einfache rundbogenförmige Maueröffnung (Portem) ohne rahmendes „Templem“, die das reale Passieren einer Mauer ermöglicht. Es kann auch die Templem/Portem-Kombination geben, die reales Passieren mit Passage-Marker ermöglicht. Es kann aber auch die Templem/Portem-Form geben, die keine reale Passage ermöglicht, sondern nur als Rahmen eines Bildes fungiert, der eine virtuelle Passage in einen fiktiven Raum ermöglicht.

Die letzte Möglichkeit knüpft an die hyperlokale Raumüberlagerung des griechischen Tempels an. Dort führten die beiden durch einen Torus-Kobordismus aneinander gekoppelten Raumöffnungen in einen mythologischen Raum: den Raum des Gottes, der im Götterbild in der Cella präsent war.

Die Architektursysteme des antiken Rom und der europäischen Postrenaissance-Kultur bringen ein neues hyperlokales Überlagerungssystem hervor. Es entsteht das System der hyperlokalen Zweischichtenwand. Dabei ist die erste Schicht das nackte Mauerwerk mit seinen realen, markerlosen Öffnungen, in diesem Text „Porteme“ genannt. Die zweite Schicht besteht aus einem Netzwerk von Ornamentformen, deren Hauptmotiv die Ädikula ist, hier „Templem“ genannt. Beide Schichten durchdringen einander, und es entsteht das Netzwerk der Templeme/Porteme mit allen sich darbietenden Möglichkeiten: markierte reale Passagen, unmarkierte reale Passagen, markierte virtuelle Passagen.

Die Kombinationsform des Templem/Portem bildet die Grundform des Netzwerks, das die hyperlokale Zweischichtenwand überzieht. Dabei wird die Herkunft des Portems aus der Befestigungsarchitektur erkennbar.

Was die Herkunft des Templems betrifft: Tempel bildeten zur Zeit aller Hochkulturen die Architekturen der Zitadellen. Die Zitadellen waren die Organisationszentren der befestigten Stadtstaaten. Sie wurden virtuell von den Göttern bewohnt, denen der Schutz des Gemeinwesens anbefohlen war. Aber sie enthielten auch wichtige Elemente der militärischen Logistik, die für die Verteidigung der Stadtstaaten unverzichtbar waren. Auf der Zitadelle befanden sich zum Beispiel die Getreidespeicher. Sie wurden von den Priestern verwaltet und waren wichtig für das Überdauern von Belagerungskriegen.

Es wird somit erkennbar, das auch die hier so genannte Zweischichtenwand aus einer hyperlokalen Überlagerung besteht. Sie wird realisiert durch die Projektion der typischen Zitadellenform und der typischen Fortifikationsform auf die ornamentlosen Wandsysteme.

Die archetypische topologische Form der Templem/Portem-Architektur ist die Form eines langgestreckten Gebäudes mit der Passagen-Doppelform (zwei Passage-Marker, davon einer mit realer Innen/Außen-Passage: das Eingangsportal; und einer mit virtueller Passage in einen mythologischen Bildraum: z.B. ein Altarbild). Archetypisch ist dieser Gebäudetyp, weil er den höchsten Rang in der decorum-Skala einnimmt, und weil das decorum aus dem unbewussten Bereich der Archetypen wirkt.

Dieser besondere Raum hat die geometrische Form eines an beiden Seiten offenen Zylinders. Die beiden Öffnungen müssen durch einen Kobordismus auf geometrisch kohärente Weise miteinander verbunden sein. Die Punkte-Mannigfaltigkeit dieser Kobordismus-Topologie hat die Form eines an beiden Enden abgeschnittenen Gartenschlauchs. Die sauberen Schnitte haben beide die Form eines topologischen Kreises (n.b.: Topologie = Gummigeometrie; ob es sich um einen euklidischer Kreis, ein Viereck oder ein unregelmäßiges Gummiband handelt macht für die Subsummierung unter dem Begriff „topologischer Kreis“ keinen Unterschied, solange das Gummiband nicht gerissen ist).

Das Architektursystem der hyperlokalen Zweischichtenwand und des Öffnungskobordismus des an beiden Seiten abgeschnittenen Gartenschlauchs ist in der realen Kultur als explizite historische Bauregel ausgewiesen. Diese Regel hat einen Prototyp hervorgebracht, und sie hat durch die Nachahmung des Prototyps eine ubiquitäre Verteilung über die ganze europäische Kultur und ihren überseeischen Einflussbereich erreicht.

Dieser bestimmbare Prototyp steht in Rom. Es ist die Hauptkirche des Jesuitenordens, hat den Namen „Il Gesù“ und wurde von Vignola und Giacomo della Porta entworfen. Sein noch älterer historischer Prototyp führt uns zu Leon Battista Alberti. Denn Alberti hat die Kirche St. Andrea in Mantua ca. ein Jahrhundert vorher entworfen. Sie enthält alle wichtigen Merkmale der späteren Gesù-Kirche in Rom.

Der Entwurf des Gesù stammt direkt aus der architektonischen Prototypenwerkstatt, aus der auch die palladianischen Architekturen des Weißen Hauses und des Capitols stammen. Denn Palladio, der theoretische Vater der Washingtoner Architektur, und Vignola waren die wichtigsten Autoren der illustrierten Lehrbücher, der „Blaupausen“ für die westliche Kultur. Die Merkmale des Gesù wurden tausendfach kopiert. Das bedeutet: Dieses Gebäude hat einen hohen prototypischen Rang. Gleichzeitig nimmt es als Sakralbau den höchsten Rang im architektonischen Decorum-System ein.

Das Decorum-System ist, wie oben dargelegt, archetypisch, weil im Unbewussten verankert. Es ordnet und präzisiert die Kontextualitätsbezüge. Wenn abstrakte Konzepte sich nur instanzieren können durch den Status, den sie in Kontexten annehmen, und wenn dieser Konzeptstatus von der Typikalität abhängt, die ihnen durch den Kontext zufließt, dann bedeutet der Prototypstatus: höchste erreichbare Typikalität. Die müsste folglich an das Original des Prototyps gekoppelt sein, den Originalbau „Il Gesù“ in Rom.

Durch sein exponiertes Decorum-Ranking gewinnt dieser Prototyp archetypische Qualitäten, weil ja Decorum-Erkennung bereits im Unbewussten manifest wird.

Die Ordnungsregeln des decorum sehen drei Hauptkontextbereiche vor. Sie werden „erhaben“, „niedrig“ und „in der Mitte zwischen erhaben und niedrig“ genannt. Der Prototyp „Il Gesù“ besetzt den Kontextbereich „erhaben“, und zwar auf dominante Weise. Doch wie ist der Kobordismus vom Typ „Gartenschlauch mit zwei kreisförmigen Enden“ in diesem Prototyp umgesetzt? Die beiden „kreisförmigen Enden“ entsprechen den architektonischen Passage-Markern „Templem/Portem“. Sie sollten, so die Theorie, die Form der von einer Ädikula gerahmten hochrechteckigen oder rundbogenförmigen Maueröffnung haben. Gibt es das im Prototyp „Il Gesù“?

Der Haupteingang des „Gesù“ (bitte Bilder googeln) besteht aus einer Tempeltür mit geraden Sturz (hochrechteckige Maueröffnung, Portem)) und einer Ädikula, die die Tempeltür einrahmt. Die Ädikula hat die Form von zwei korinthischen Säulen, die einen Dreiecksgiebel tragen (Templem). Damit ist die Form des Passage-Markers „Templem/Portem“ komplett umgesetzt: reale Passage plus rituelle Passage mit Ädikula als Marker.

Am anderen Ende des „topologischen Gartenschlauchs“ befindet sich der Altar. Er besteht aus einem Altartisch und einer Rundbogenöffnung (Portem), die sich in der Mauer über dem Altartisch befindet und ebenfalls von einer Ädikula (Templem) gerahmt wird. Die Ädikula setzt sich zusammen aus Säulen und einem Segmentgiebel. Doch die Rundbogenöffnung, das Portem, ist kein realer Mauerdurchbruch, sondern der Rahmen eines Bildes. Der Inhalt des Bildes bezieht sich auf den spirituellen Zusammenhang zwischen der Geburt und dem Tod Jesu.

Ein TRACE Konzept verfasst von H. Mühlmann

 

Aktuelles

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Nico Pezer (Hg.):
Neurorhetorik: Neurophysiologische Kulturforschung
Der vorliegende Band berichtet über die experimentelle Arbeit, die von der TRACE-Gruppe während der letzten 5 Jahre durchgeführt wurde. Der Band enthält Beiträge von Nico Pezer, Victoria Kirjuchina, Thomas Grunwald, Martin Kurthen, Anton Rey, Rainer Gabriel, Heiner Mühlmann, Larissa Dolde, Jan Söffner und Thomas Grundnigg. (München, Verlag Wilhelm Fink, 2018)

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