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TRACE καιρος - Essays unter Zeitdruck

11.02.2022

Nico Pezer
Lernen und Wahrnehmung

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Im Verlauf eines 26 Jahre währenden Dialogs haben C. G. Jung und W. Pauli die Theorie der Archetypen entwickelt als eine Schnittstelle zwischen der Welt und unserer Wahrnehmung dieser Welt. Die Archetypen sind das Erbe der ganzen Menschheit und existieren autonom außerhalb unserer Köpfe, können aber bei günstigen Bedingungen in die Köpfe einziehen. Sie sind in Analogie zu den Instinkten einer tierischen Spezies zu sehen. Die Meme von Richard Dawkins, The selfish Gene, teilen diese Eigenschaft der Autonomie mit den Archetypen. Als Darwinist nimmt R. Dawkins an, dass unser Gehirn seine kognitiven Funktionen im Laufe der Evolution dahingehend entwickelt hat, den Memen ein angenehmes Zuhause zu bieten.

Die Theorie der Archetypen geht über den Darwinismus und die Memetik von R. Dawkins hinaus. Für C. G. Jung sind die Archetypen zuerst Ideen im Platonischen Sinne. Sie repräsentieren darüber hinaus wahrnehmbare Eigenschaften der Welt und sind Vermittler der Synchronizität. Die Synchronizität und die psychokinetischen Fähigkeiten von Wolfgang Pauli, der sogenannte Pauli Effekt, sind die Triebfeder hinter der Entwicklung der Theorie von den Archetypen. Im Folgenden werden dieser Theorie als Vermittler zwischen der wahrnehmbaren Eigenschaften der Welt und der menschlichen Wahrnehmung der Welt neuere Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft gegenübergestellt.

Im Kontext unserer Diskussion von Archetypen und Typikalität möchte ich auf einen Wesenszug menschlicher Wahrnehmung hinweisen – sie erzeugt geradezu die Wirklichkeit. Im Kortex ist ein hierarchisches und generatives Modell der Wahrnehmung anhand des sensorischen Inputs implementiert. Die Wahrnehmung ist eine aktive, generative Interprätation des sensorischen Inputs. Die Interprätation erfolgt successiv und rekursiv. Das bedeutet, dass die kognitive Interprätation weiter geht, wenn der sensorische Input bereits abgestellt ist. Das kann man an unseren evozierten Potentialen von architektonischen Stimuli durchaus erkennen. Der Stimulus war nur für 200 Millisekunden an, im ERP sind jedoch auch spätere Komponenten vorhanden, die N250 und die N400 zum Beispiel. Die Stärke der N250 Komponente besagt scheinbar, inwiewweit der Kortex dem Simulus den Wert eines Zeichens (Symbolon) beimisst oder nicht zuweist. Die N400 Komponente stellt eine kategoriale Bewertung des sensorischen Inputs dar, mehr oder weniger relevant.

Der Kortex generiert eine Vorhersage der Realität und evaluiert diese Vorhersage am aktuellen sensorischen Input mit Hilfe kognitiver Funktionen, die soziokulturellen Regeln folgen. In der Tat, dies ist ein unheimlich starkes kognitives Modell, das uns erlaubt, allerlei Kausalitäten in der Welt zu erkennen und zu lernen.

Die generative Tätigkeit unserer Wahrnehmungssysteme hat eine durchaus wichtige praktische Funktion im täglichen Leben. Migränepatienten erleiden oft Anfälle, die auf einen spastischen Verschluss einer Arterie im Gehirn zurückgehen. Wenn die betroffene Arterie ein visuelles Areal im sensorischen Kortex versorgt, entsteht eine Lücke in der retinalen Repräsentation der Außenwelt, ein sogenanntes Skotom. Der Patient sieht aber diese Lücke nicht. Das Skotom kommt erst zum Vorschein, wenn der Patient im Anfall eine Wand anvisiert, an der ein Gegenstand hängt, eine Wanduhr etwa. Falls das Skotom auf die Wanduhr trifft und sie vollständig ausfüllt, sieht der Patient die Wanduhr nicht mehr. Er sieht stattdessen das Tapetenmuster, das die Wanduhr umgibt, und zwar lückenlos.

Wenn das Skotom eine kritische Ausdehnung überschreitet, funktioniert diese Rekonstruktion nicht mehr. Dies ist der Fall bei erheblichen Läsionen der Sehrinde, des Sehnervs oder der Netzhaut. Es entsteht ein nicht transientes Skotom, das die Charles Bonnet Halluzination zur Folge hat. Bei diesen Halluzinationen wird das Skotom mit Phantombildern ausgefüllt. Diese visuellen Objekte sind allerdings keine beliebigen Phantome, sie sind archetypisch in dem Sinn, dass sie jederzeit zum Gegenstand unserer Wahrnehmung erhoben werden könnten. Was ein wenig tautologisch klingt, denn diese Phantombilder werden im höheren visuellen Kortex generiert.

V. S. Ramachandran schildert in seinem Buch Phantoms in the Brain eine Reihe von Patienten mit dem Charles Bonnet Syndrom. Seine Patienten stellen ihre Phantombilder oft als alltäglich dar mit dem Hinweis, dass es sich nicht um Bilder oder Szenen handelt, die sie irgendwann schon gesehen haben. Ein Patient betont, dass seine Phantombilder realer sind als die Realität, im Sinne von surreal vermutlich. Oder die Farben der Bilder sind kräftiger und brillanter als in der Realität, im Sinne von expressionistisch vielleicht. Auf die Frage, was sie sieht wenn sie halluziniert, antwortet eine Patientin: Cartoons. All dies deutet darauf hin, dass die Skotome, die diese Halluzinationen verursachen, in verschiedenen Regionen des visuellen Kortex mit unterschiedlichen Funktionen entstehen: Farben, Formen, Kanten und Konturen.

Das generative Modell der Wahrnehmung ist, wie alles, erworben im Sinne von gelernt. Das Lernen erfolgt ohne Tutoring d.h. unsupervised. Wie stark dieses Modell ist, erkennt man schon daran, dass Kinder eine derart komplexe Kulturfunktion wie die Sprache ohne Tutoring lernen. Unsere Wahrnehmung ist geschult an einer Umgebung, die wesentlich aus Kulturbauten in einer Kulturlandschaft besteht. Keiner von uns hat einen Urwald je betreten genauso wenig wie die chinesischen Teilnehmer der westlichen, vignolesquen Architekturstudie. Aus der KI ist bekannt, dass generative Modelle auch die Inhalte korrekt wiedergeben, die sie im Training nie gesehen haben. Daher wäre es interessant, unsere archtektonischen Experimente mit Ureinwohnern zu wiederholen, die das Amazonas nie verlassen haben.

Oppenheim, I., Mühlmann, H., Blechinger, G., Mothersil, W., Hilfiker, P., Jokeit, H., Kurthen, M., Grunwald, Th., (2009) Brain electrical responses to high- and low-ranking buildings, Clinical EEG and Neuroscience, 40, 157-161

Oppenheim I., Vanucci, M., Mühlmann, H., Gabriel, R., Jokeit, H., Kurthen, M., Krämer, G., Grunwald, Th. (2010) Hippocampal contributions to the processing af architectural ranking, Neuroimage, 50, 742-752

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Mecklinger, A., Kriukova, O., Mühlmann, H., Grunwald, Th., Cross-cultural differences in processing of architectural ranking: Evidence from an event-related potential study, Cognitive Neuroscience, accepted 30. November 2013

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