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TRACE καιρος - Essays unter Zeitdruck

25.03.2022

Jan Söffner
Über Long Covid im außermedizinischen Sinne

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Während meines Studiums nahm ein guter Freund und Mediziner mich einmal mit in eine seiner medizinhistorischen Vorlesungen mit, weil er meinte, mich könnte sowas interessieren. Und in der Tat: Der Professor war sagenhaft belesen, kannte sich nicht nur in der Medizin- sondern auch in der Kulturgeschichte auf schier unerreichte Weise aus und war in der Lage, sein Wissen mit einer didaktischen Brillanz zu vermitteln, die mir bis dahin aus der eigenen Fakultät völlig unbekannt war. Das war allerdings auch auf eine Anpassungsleistung gegenüber ihren Studierenden zurückzuführen, die sich während der Vorlesung auf andere Prüfungen vorbereiteten (TikTok und Snapchat gab es damals noch nicht) und auch ansonsten keine Symptome von Aufmerksamkeit an den Tag legten. Nur ab und zu kam es zu studentischen Meldungen – und dann ausnahmslos zu der Frage, was denn jetzt in der Klausur drankäme. Nach der Vorlesung fühlten die Studierenden sich von dem Umstand solch unnötiges Zeugs lernen zu müssen, in ihrer Medizinerehre beleidigt und verdrehten im Rausgehen die Augen.

Die Generation von Medizinern, die damals heranwuchs, ist inzwischen dominant geworden. Auf medizinhistorisch leicht vorauszusehende epidemiebegleitende Probleme wie Verschwörungstheorien, Impfgegner, Querdenker und gesellschaftliche Erregungs- und Depressionszustände waren die Experten offenbar nicht vorbereitet; vorausschauend zu agieren reagierten sie eher verständnislos (was nicht immer dazu angetan war, den unvermeidbaren gesellschaftlichen Spaltungen entgegenzuarbeiten).

Versuchen wir daher die Frage nach dem Long Covid aus der anderen Richtung, meiner Spezialisierung gemäß von den Kulturwissenschaften ausgehend, zu ergänzen. Die Frage, die ich mir stelle, ist, ob es auch ein Long Covid gibt, das aus heutiger medizinsicher Sicht schwer zu greifen ist, auf das sie aber eingestellt sein muss. Beginnen wir bei einzelnen Betroffenen. Neben den oft fürchterlichen organischen Schäden, die eine Infektion nach sich zieht, gibt es auch eine Reihe von unspezifischen Long Covid Symptomen für das Leben vermeintlich Genesenen, die oft schwer zu erkennen sind – so schwer, dass viele offanber gar nicht erst in Erwägung ziehen, zum Arzt zu gehen. Die gebräuchlichsten Spätfolgen einer Erkrankung sind offenbar diejenigen der Fatigue, also der Müdigkeit, Erschöpfung, reduzierte Belastbarkeit, Teilnahmslosigkeit, Antriebslosigkeit, oft depressiven Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten und Problemen des Kurzzeitgedächtnisses. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist dabei interessant, dass für alle diese Symptome auch außervirale, aber in der Pandemie häufig anzutreffende Ursachen ins Spiel kommen können, was den Betroffenen die Frage, ob sie medizinische Hilfe benötigen, nicht gerade leichter macht. Beispielsweise sind da die andauernden Videokonferenzen, der Verlust an Sozialkontakten und körperlicher Nähe, die fortwährende Sorge um Ansteckung, die medial gepushte Reduktion des menschlichen Lebens auf medizinische Fakten, die damit einhergehende Sinnlosigkeitserfahrung und die Angst um die Zukunft. Es scheint für den Laien daher oft recht schwer festzustellen, ob man an Long Covid oder an Long-Coronamaßnahmen leidet.

Die Parallelen zwischen Covid- und Maßnahmensymptomen sind natürlich Zufall: Ein anderes Virus hätte andere organische Langzeit-Schäden verursacht, während die Maßnahmensymptome vermutlich ähnliche wären. Dennoch sind auch die beschriebenen Symptome durchaus Folgen der Pandemie und betreffen daher auch das Arbeitsgebiet der Epidemologie. Die raffinierte Seite an Viren sind schließlich nie die Symptome, an denen sie evolutionär gesehen gar kein Interesse haben – je mehr Wirte sterben, desto weniger können sie sich schließlich verbreiten. Von der Evolution massiv gefordert ist stattdessen die Form der Übertragung. Und ein auf Menschen spezialisiertes Virus hat es insofern schwer, als sich Krankheiten unter Menschen herumsprechen. Zudem können Menschen durch wissensbasierte sowie medizinische Gegenmaßnahmen reagieren: Durch Quarantänen, Tests oder Impfungen. Um mit einem menschlichen Wirt evolutionär erfolgreich zu sein, muss ein Virus daher solche Infektionswege wählen, die es Menschen zu schwer oder zumindest zu schmerzhaft machen, sich zu schützen – etwa durch asymptomatische Verläufe und späte Symptomatik.

Die epidemischen Ansteckungswege haben damit immer auch eine außervirologische Seite, die man kulturwissenschaftlich bedenken kann: ein Ansatz, für den ich Heiner Mühlmann dankbar bin und dem ich im Folgenden nachgehen möchte. Drei Bereiche scheinen mir für Covid entscheidend gewesen zu sein. Erstens war da die körperliche Interaktion und damit das, was Maurice Merleau-Ponty als intercorporalité, als Zwischenleiblichkeit bezeichnete, besonders insofern sie mit körperlicher Nähe einhergeht. Zweitens die Frage nach den Alltagskontakten, also den Freundes- und Bekanntengruppen. Und drittens die logistische Seite einer politischen und ökonomischen Ordnung, die unter dem Namen der Globalisierung läuft – und deren kommunikationsbasierte soziale Ordnung Niklas Luhmann als „Weltgesellschaft“ bezeichnet hat. In jedem dieser drei Bereiche entwickelte die Epidemie in Zusammenarbeit mit den menschlichen Gegenmaßnahmen eine spezielle Symptomatik - d.h. sie entwickelte psychische, soziale, ökonomische und politische Symptome.

Nehmen wir zuerst den Übertragungsweg über die körperliche Interaktion. Aufgrund dieses Übertragungswegs kam es zunächst zu einer Körperlichkeit, die auf die Vermeidung von Nähe, auf Bedrängungsgefühle durch die Präsenz auch naher Freunde sowie auf die Behinderung der emotionalen Kommunikation durch Abstands- und Maskenregeln hinauslief. Diese „Nächstenangst“ wurde fortan durch die Corona-Regeln in Form einer Foucaultschen Disziplinargesellschaft kanalisiert, sodass die „gelehrigen Körper“ separiert und isoliert wurden und zudem eine neue Kommunikation lernten, die auf Abstand zu funktionieren hatte. Gewiss konnte man seither statt Umarmungen einen Ellbogen-Fußspitzen-Schuhplattler aufführen; auch ließ sich leibliche Distanz (meistens korrekt) als Rücksicht, Höflichkeit und Respektbekundung interpretieren und schönreden. Doch die Vermeidung von räumlicher Nähe wurde zumindest unterschwellig immer leicht als eine Körperlichkeit der sozialen Abweisung und Kälte wahrgenommen. Vor allem Kinder litten in der Pandemie darunter. Ich denke aber nicht, dass es ein Zufall ist, wenn in einer solchen Zeit der Alkoholkonsum entsprechend gestiegen und im Nachhinein schwer wieder herunterzufahren ist – Alkohol schafft emotionale Wärme, macht selbstbewusst, ist ein guter Angstlöser: es ist gewissermaßen die perfekte Droge, um ein gleichzeitiges Gefühl der Angst vor dem Nächsten, der Bedrängtheit durch den Nächsten und der Abgewiesenheit von dem Nächsten anzugehen. Eine weitere Folge war die Reduktion der sozialen Umwelt auf die Größe eines Computerbildschirms oder Smartphones – man betrieb eine Virtualisierung der Körper, die einen auf Distanz auch zu sich selbst setzte (man wurde gewissermaßen zum eigenen Avatar). Auf die Dauer führte dies bei vielen Menschen zu ungeahnter Erschöpfung. Denkt man zudem an die konstante Ablenkung, die virtuelle Interaktion bietet (Mails und Instagram während Videokonferenzen, sich muten und telefonieren, die Kamera ausschalten und nebenher Kinder Homeschoolen etc.), dann gesellen sich auch Teilnahmslosigkeit gegenüber dem Kommunikationspartner sowie die Konzentrationsschwächen hinzu; und vielleicht auch die Gedächtnislücken, die aus der Monotonie der Interaktion mit Kacheln entstehen. Eine schöne Reihe an Long-Covid-ähnlichen Symptomen.

Damit kommen wir zum zweiten gesellschaftlich-kulturellen Infektionsweg des Virus, den Alltagsbekanntschaften. Die Räumlichkeit, die das digitale Netzwerk als Alternative bot, trieb das Nahe auseinander und holte das Ferne dafür anstandslos in Bildschirmnähe. Es entstand eine Welt, in der sich nah ist, was sich affin ist, in der beieinander ist, was zusammengehört. Die über die Welt verstreuten Busenfreunde und Seelenverwandten rückten qua Videokonferenz in virtuelle Nähe. Es entstanden mächtige Filterblasen – d.h. das Phänomen in der virtuellen Sozialwelt nur noch mit den eigenen Meinungen und Ansichten konfrontiert zu werden, das der Internetaktivist Eli Pariser bereits 2011 beschrieben hat. Die Auswirkungen dieser Konstellation ließ sich so stark wie nie beobachten, u.a. bei Querdenkern oder Kapitolsstürmern. Dominant wurde dieses Phänomen aber eben nicht (nur) wegen der Algorithmen der sozialen Netzwerke, sondern auch wegen eines Ausfalls des körperlichen Alltags, d.h. einer Abkopplung von den physischen Alltagsnetzwerken, die vordem als Korrektur hatten wirken können.

Die wichtigste und verstörende Symptomatik schließt sich hieran an – es ist diejenige, die den Übertragungsweg durch die Globalisierung betrifft: diejenige, ohne die es keine Pandemie, vielleicht nicht einmal eine größere Epidemie gegeben hätte. Verstörend ist daran vor allem, was nicht passierte. Optimisten hatten – angesichts schon vorher eher ohnmächtiger globaler Institutionen wie UN oder WHO – immer gern auf einen hypothetischen Independence Day-Effekt gehofft: Bei einer globalen äußeren Bedrohung würden die Menschen endlich kooperieren und zusammenarbeiten. Was geschehen ist, war das Gegenteil. Die globale Krise führte gerade nicht zu einer Kooperation, sondern zu einem Anwachsen nationaler Konflikte und zu einer Blockbildung, die in einen neuen kalten (oder inzwischen nicht mehr ganz so kalten) Krieg mündeten: Ein Game of Thrones-Effekt (auch in den erzählerischen Gattungen sorgt historische Belesenheit offenbar für bessere Voraussagen).

Es fragt sich, warum diejenige Disziplin, die sich mit Epidemien ja eigentlich am besten auskennen sollte, so wenig gegen diese Symptome getan oder wenigstens vor ihnen gewarnt hat. Bei der Betrachtung der körperlichen, sozialen und weltgesellschaftlichen Symptomatik hat medizinische Expertise nicht einmal durchgehend die Rolle einer Abhilfe oder Milderung gespielt, sondern teilweise auch diejenige des Auslösers. Mangels wirklich vertrauenerweckender internationaler Zusammenarbeit gelang es den Experten nicht einmal zu verhindern, dass sich die Suche nach dem Ursprung des Virus von der für die Prophylaxe und die für kommende Generationen wichtige Frage: Labor oder Fledermaus? hin zur politisch aufgeheizten und Hass schürenden Frage: China oder Fledermaus? verlagerte. Der politische Schaden ist auch hier immens.

Ich hoffe nicht den Eindruck erweckt zu haben, die heldenhafte, aufopferungsvolle und wissenschaftlich exzellente Leistung unendlich weltweit agierender Medizinerinnen und Medizinern relativieren oder gar verunglimpfen zu wollen. Mein Dank an sie ist riesig. Es geht mir allein um die disziplinäre Breite, die gefordert wäre, um die medizinische Expertise dergestalt aufzustellen, dass sie Epidemien besser gerecht wird. Denn das Problem einer zu großen Spezialisierung scheint inzwischen bedenklich sichtbar geworden zu sein: Mit gutem Recht und inzwischen verzweifelter Dringlichkeit pochen Medizinerinnen und Mediziner angesichts der größten und schlimmsten Corona-Welle auf Maßnahmen, die sinnvoll und überfällig wären – treffen dabei aber zunehmend auf genau jenes Augenrollen, das mir seinerseits beim Hinausgehen aus der medizingeschichtlichen Vorlesung entgegengeschlagen war.

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Nico Pezer (Hg.):
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Der vorliegende Band berichtet über die experimentelle Arbeit, die von der TRACE-Gruppe während der letzten 5 Jahre durchgeführt wurde. Der Band enthält Beiträge von Nico Pezer, Victoria Kirjuchina, Thomas Grunwald, Martin Kurthen, Anton Rey, Rainer Gabriel, Heiner Mühlmann, Larissa Dolde, Jan Söffner und Thomas Grundnigg. (München, Verlag Wilhelm Fink, 2018)

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